Drogenkrieg: Berichte vom brutalsten Ort der Welt

Archivbild: Das Mitglied einer Bürgerwehr in der Stadt El Mezon
Archivbild: Das Mitglied einer Bürgerwehr in der Stadt El Mezon(c) REUTERS (HENRY ROMERO)
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Sandro Benini, Lateinamerika-Korrespondent der »Presse«, hat ein so beeindruckendes wie verstörendes Buch über die Protagonisten des gewalttätigen Drogenkriegs in Mexiko geschrieben - vom Killer zum Polizisten. Die »Presse am Sonntag« bringt Auszüge.

Dritter Dezember 2010, Cuernavaca: Ordnungskräfte verhaften den 14-jährigen Edgar alias „El Ponchis“, der für das „Kartell des Südpazifiks“ als Killer und Folterknecht arbeitet. Er gibt zu, vier Personen enthauptet und zerstückelt zu haben.

Mehrmals filmt er Folterungen, um die Videos im Internet zu publizieren. Gegenüber den Ordnungskräften sagt er: „Wenn ich und meine Gruppe die Leute, die wir umbringen sollten, nicht fanden, dann haben wir irgendwen getötet – Maurer, Taxifahrer, das spielte keine Rolle. Wir sagten unseren Auftraggebern, die Ermordeten hätten einer verfeindeten Gruppe angehört. So bezahlten sie uns trotzdem.

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15. November 2012, Tiquicheo, Bundesstaat Michoacán: Im Morgengrauen findet man den Leichnam einer jungen Frau. Die Täter haben ihr am ganzen Körper Verbrennungen zugefügt, Verletzungen an den Knien deuten darauf hin, dass sie ihr Opfer hinter sich herschleiften, wahrscheinlich, indem sie es lebend an die Stoßstange eines Autos fesselten und losfuhren. Dann haben sie die Frau zu Tode geprügelt.

Die Ermordete ist María Santos Gorrostieta, 36, ehemalige Bürgermeisterin von Tiquicheo. Während ihrer Amtszeit 2008 bis 2011 hat die Ärztin zwei Attentate überlebt. Beim ersten kam ihr Mann ums Leben. Santos Gorrostieta wurde international bekannt, weil sie sich während der Genesung mit ihren Verletzungen fotografieren liess: Schnittwunden, Einschusslöcher, eine sich über den ganzen Bauch ziehende Narbe, ein künstlicher Darmausgang. Fünf Monate vor ihrem Tod sagt sie: „Ich darf mich nicht einschüchtern lassen, denn ich habe drei Kinder, denen ich Vorbild sein muss.“

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Dem mexikanischen Drogenkrieg sind während der letzten sechs Jahre mindestens 65.000 Menschen zum Opfer gefallen, 25.000 sind verschwunden, eine Viertelmillion wurden Flüchtlinge im eigenen Land. Die Auseinandersetzung verläuft ohne Fronten, ohne eindeutige Grenze zwischen Gut und Böse, schuldig und unschuldig. Drogenkartelle kämpfen um Territorien, Transportwege, um Herrschaft über Viertel, Städte und Landstriche. Ihre Killer massakrieren einander mit einer Brutalität, die jede Vorstellung sprengt.

Der Kampf wütet auch zwischen dem organisierten Verbrechen und den Ordnungskräften, deren schlagkräftigste Einheiten Armee, Marine und Bundespolizei sind. Laut Menschenrechtsorganisationen begehen diese systematisch Verbrechen, wie man sie aus einstigen lateinamerikanischen Militärdiktaturen kennt: Sie verhaften ohne richterlichen Befehl, foltern, erschießen Menschen standrechtlich und lassen sie verschwinden. Die Regierung versichert, fast alle Opfer seien gestorben, weil sie „irgendetwas“ mit der Drogenmafia zu tun gehabt hätten. Aber in einem Land, wo 99 Prozent aller Verbrechen ungesühnt bleiben – was keine Redewendung, sondern ein statistischer Wert ist –, ist dies eine Zweckbehauptung. Fast wöchentlich stößt man auf ein Massengrab. Wer die Toten sind, wer sie umbrachte, warum sie ihr Leben verloren – niemand weiß es, keine Institution hat Zeit und Mittel, es herauszufinden.

Unheimlich sind Enthemmung und Entmenschlichung. Killer köpfen Männer, Frauen, Jugendliche. Vor Schulen und auf öffentlichen Plätzen findet man zerstückelte Leichen. Opfern wird bei lebendigem Leibe die Gesichtshaut aufgeschnitten und heruntergezerrt, danach kleben die Täter sie auf einen Fußball. Einem enthaupteten Rumpf wird der Kopf eines Schweines aufgesetzt und angenäht. Ein Killer vom Kartell von Sinaloa erzählt, dass er vor solchen Taten besonders viel Kokain konsumiere.

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Beklemmend ist das Nebeneinander von Exzess und Normalität. In Mexiko starten und landen Flugzeuge voller Touristen, sitzen die Leute Zeitung lesend im Straßencafé, lassen immer mehr internationale Automobilkonzerne ihre Fahrzeuge herstellen, tagen das kommunale, regionale und nationale Parlament. Es gibt Zonen und Viertel, wo der Drogenkrieg nur in den Medien stattfindet. Aber es gibt auch Regionen, in denen der Staat seine Autorität verloren hat, in denen seine Funktionäre bezahlte Handlanger des organisierten Verbrechens sind.

Vor allem gibt es keinen Ort, der sich vor der Barbarei sicher fühlen kann – das beweisen Städte und Landstriche, wo sich Szenen abspielen, wie sie noch vor Kurzem undenkbar waren.

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Der Killer hat ein Lachen, als würde er gleich einen Staubsauger aus dem Kofferraum nehmen und ihn anpreisen. Stattdessen schließt er sein Auto ab, tritt ein und setzt sich. Es ist Nachmittag in Ciudad Juárez, draußen hecheln vor Hitze die Straßenköter, während sich Santo Álvarez (Name geändert), Kokaindealer und Killer beim Drogenkartell von Sinaloa, in der chaotischen, von einem ratternden Ventilator gekühlten Zweizimmerwohnung einer Fotografin anschickt, seine Lebensgeschichte zu erzählen.

Er trägt einen hufeisenförmigen Bart, einen mächtigen Bauch und ein gelbes T-Shirt, unter dem er manchmal ein Metallkreuz hervorzieht, um es zu küssen. Als er sich erhebt, um auf die Toilette zu gehen, wird die Pistole sichtbar, die er sich hinten in die Jeans gesteckt hat. Er redet viel und schnell, lacht häufig, lehnt sich hinüber, berührt einen am Knie und am Ellenbogen. Es fällt schwer, ihn nicht sympathisch zu finden, auch wenn man sich bewusst ist, dass das eigentlich nicht geht, bei allem, was er getan hat.

Geboren wurde Álvarez vor 32 Jahren in Los Mochis an der Pazifikküste im Bundesstaat Sinaloa, aus dem fast alle großen Drogenbosse und Mafiadynastien stammen. Álvarez schildert seine Jugend als Hölle, aber es klingt nie, als wolle er seine Taten rechtfertigen, indem er sich zum Opfer der Umstände stilisiert. Mitleid gibt es längst nicht mehr in seinem Leben, weder mit anderen noch mit sich selbst.

Neun Geschwister, beide Eltern schwere Alkoholiker, der Vater gewalttätig. Als Álvarez sieben Jahre alt ist, geht die Autowerkstatt, in der sein Vater als Mechaniker arbeitet, in Konkurs. „Zwei Wochen später kam er einfach nicht mehr nach Hause. Wir haben nie erfahren, ob er geflohen ist oder ob ihn jemand umgebracht und verscharrt hat.“ Zuvor war die Familie arm gewesen, jetzt versinkt sie im Elend. Da die Mutter in ihrer Alkoholsucht nicht arbeitet, prostituiert sich eine der älteren Schwestern. Es geht erst wieder etwas besser, als Santo Álvárez' älterer Bruder für das Kartell von Sinaloa zu arbeiten beginnt, auf der untersten Hierarchiestufe. „Es war mein Bruder, der mir zum ersten Mal Kokain gab, mich seinem Chef vorstellte und als Falke empfahl. Er half mir, zu dem zu werden, was ich heute bin.“

Irgendwann erfährt sein Vorgesetzter, dass ein junger Kleindealer ab und zu Geld oder Kokain unterschlägt. „Er gab mir den Auftrag, ihn zu erschießen. Álvarez ist 17 und weiß: Dass der Chef ihn gewählt hat, ist eine Ehre. Wenn er sich weigert, verliert er alles. Das Geld und den Respekt, der ihm so viel bedeutet. Die Komplizenschaft der anderen. Die Familie, zu der das Kartell für ihn wurde. Vielleicht sein Leben.

Er sei erstaunt gewesen, wie leicht es ging, erzählt Álvarez. Der knapp Sechzehnjährige kommt kurz nach Mitternacht von der Geburtstagsparty eines Freundes nach Hause. Álvarez wartet mit zwei Komplizen in einem Auto, steigt aus, hebt die Pistole, drückt ab. Was ihm von seinem ersten Mord am deutlichsten in Erinnerung bleibt, ist der vor Schrecken weit geöffnete Mund seines Opfers, kurz bevor die Kugel in seine Stirne eindringt. Und der Schrei seiner Mutter oder Schwester, den Álvarez noch aus dem Hause gellen hört, ehe er davonfährt.

Noch nie wurde Álvarez, der seither so viele Menschen umgebracht hat, dass er deren Zahl nur schätzen kann – auf etwa 600 – verhaftet. Er erhält heute zwei bis drei Mordaufträge monatlich, für einen Lohn zwischen 2000 und 15.000 Dollar. „Manchmal nehme ich auch Aufträge an, die nichts mit dem Drogenkrieg zu tun haben. Wenn du mir in diesem Moment 2000 Dollar auf den Tisch legst und sagst, ich solle sie erschießen, dann tue ich es.“ Er deutet auf die Fotografin, die ungläubig den Kopf schüttelt. Als sie sich eine Zigarette anzündet, zittern ihre Hände.

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Ein Angehöriger der „Zetas“ berichtet nach seiner Festnahme, innerhalb dieses Kartells gebe es eine Gruppe, die nur aus Frauen bestehe und sich Las Panteras (die Pantherinnen) nenne. Ihre Funktion sei es, Polizisten, Bürgermeister, Lokalparlamentarier, Richter und Sicherheitsfunktionäre zu bestechen – und umzubringen, falls sie die Zusammenarbeit verweigern.

Im Juni 2011 liefern sich die Insassen eines aus zehn Geländewagen bestehenden Konvois nahe Guadalajara ein vierstündiges Gefecht mit der Polizei, bei dem die Verbrecher MGs und Granatwerfer einsetzen. Sechs Kartellmitglieder sterben. Von den übrigen zehn sind sechs Frauen, darunter zwei Sechzehnjährige. Eine Journalistin fragt eines der Mädchen, ob es mit Waffen umgehen könne. „Ich verwende das Horn (umgangssprachlich für Kalaschnikow), das R (Maschinengewehr AR-15) und die Kurzen (Pistolen).“ Auf die Frage, wer sie sei, erwidert sie stolz: „Ich heiße Maria Celeste und arbeite als Killerin für die Zetas. Ich habe eine zweimonatige militärische Ausbildung hinter mir und bin erst seit drei Tagen im Gefecht.“

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In der langen Galerie der im mexikanischen Drogenkrieg begangenen Verbrechen sind die Zetas für einige der schlimmsten verantwortlich: Sie sind es, die im August 2011 das „Casino Royale“ in der Industriestadt Monterrey in Brand setzen, weil sich dessen Besitzer geweigert hat, Schutzgeld zu zahlen. 52 Menschen ersticken oder verbrennen, darunter viele Hausfrauen und Rentner. Im April 2011 stößt die Polizei in San Fernando, im Staat Tamaulipas, auf ein Massengrab mit 193 von Zetas Ermordeten. Inoffiziellen Quellen zufolge sind es mehr als 500 Leichen.

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Die Polizei hat keinen guten Ruf in Mexiko. Insbesondere die Gemeindepolizei und die Corps der Bundesstaaten gelten als notorisch korrupt. Durchschnittlich verdient ein Gemeindepolizist monatlich umgerechnet 300 Dollar, was nicht annähernd ausreicht, um ein würdiges Leben zu führen. Lässt er sich korrumpieren, kann er in einer Woche mehr einnehmen als durch seinen offiziellen Lohn in einem Jahr.

Immer wieder stellt sich heraus, dass ganze Polizeicorps für ein Kartell arbeiten. Der frühere amerikanische Antidrogenzar Barry McCaffrey schätzt, dass die Syndikate monatlich acht Millionen Dollar aufwenden, um Ordnungskräfte zu bestechen. Laut Schätzungen sind an 70 bis 80 Prozent aller Entführungen Polizisten, Expolizisten oder Militärs beteiligt.

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68 Journalisten starben während der Ausübung ihres Berufes im gesamten Zweiten Weltkrieg. 36 kamen während der Konflikte auf dem Balkan zu Beginn der 1990er ums Leben. In Mexiko, das sich offiziell im Frieden befindet, hat die Drogenmafia seit 2000 mindestens 80 Journalisten umgebracht oder verschwinden lassen.

Die 49-jährige Regina Martínez, Reporterin für das Magazin „Proceso“, findet die Polizei am 28. April 2012 nach einem anonymen Anruf in der Badewanne ihrer Wohnung. Ihr Gesicht ist geschwollen von den Schlägen, die ihr die Täter verabreicht haben, bevor sie sie erdrosselten. Am 3. Mai 2012, dem „Tag der Pressefreiheit“, ehrt der Kongress von Veracruz die Ermordete durch eine Schweigeminute. Die Killer begehen den Tag auf ihre Weise: In einem Kanal lassen sie in Abfallsäcken die Körper von drei Fotografen und einer Ex-Sekretärin der Zeitung „Dictamen“ zurück.

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Der Drogenkrieg geht unvermindert weiter. Von Dezember 2012 bis Mitte März 2013 sterben mehr als 3000 Personen, am 19. März werden binnen Stunden 28 Menschen hingerichtet.

(Textpassagen ausgewählt und redaktionell bearbeitet von Wolfgang Greber)

Inferno Mexiko

Seit 2006 wütet in Mexiko ein Krieg zwischen Drogenbanden untereinander und dem Staat. Mehr als 60.000 Menschen wurden ermordet, 25.000 verschwanden. Der Schweizer Journalist Sandro Benini, der in Mexiko lebt, berichtet in „Drogen, Krieg, Mexiko – der gefährlichste Ort der Welt“ in erschütternd nüchternem Ton von Protagonisten: etwa dem Killer, der nachts von seinen Opfern heimgesucht wird, dem hilflosen Präsidenten, Kämpferinnen und Journalisten, die wie die Fliegen sterben. (Echtzeit Verlag, Basel, 252 S., ca. 24 Euro).

Zum AUTOR

Sandro Benini (*1967 in Zürich) hat in Zürich und Bologna deutsche und italienische Literatur studiert und war für kurze Zeit Italienischlehrer,
ehe er sich dem Journalismus zuwandte.

2004 zog er nach Mexiko, wo er seither lebt und unter anderem für die „Presse“ und die „Presse am Sonntag“ als Lateinamerika-Korrespondent tätig ist.

„Drogen, Krieg, Mexiko“ ist sein erstes Buch (s. unten).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.04.2013)

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