USA: Erste englische Siedler als Kannibalen

Eine Rekonstruktion von „Jane“.
Eine Rekonstruktion von „Jane“.(c) REUTERS (SMITHSONIAN INSTITUTE)
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Die Überreste eines 14-jährigen Mädchens beweisen die Berichte von Zeitzeugen, dass aus Not heraus in der englischen Kolonie Jamestown (Virginia) anno 1609/10 Menschen gegessen wurden.

Washington. An einem Junitag des Jahres 1609 bestieg ein Mädchen in Plymouth ein Segelschiff nach Amerika. Der Backfisch aus Südengland konnte nicht wissen, dass es in kaum einem Jahr den Hungertod sterben würde – und sein Körper anderen Siedlern in der Neuen Welt als Nahrung dienen würde.

Am Mittwoch wurden in Washington im „National Museum of Natural History“ Knochen dieses Mädchens vorgestellt. Sie sind demnach auch der erste Beweis für mehrere Berichte von Zeitzeugen, wonach die ersten langfristigen europäischen Siedler in Nordamerika in ihrer großen Not zu Menschenfressern wurden.

Das Mädchen war bei seinem Tod 14 Jahre alt; das lässt sich aus dem Zustand der Mahlzähne ableiten. Es kam aus Südengland; das zeigen Kohlenstoffisotope in ihren Knochen, die auf eine Diät aus englischer Gerste und Roggen hindeuten. Sie war Tochter einer wohlhabenden Familie oder gehörte als Magd einer solchen an; das legt die Qualität der Knochen nahe.

Sie kam im August 1609 mit einem jener sechs Schiffe aus Plymouth in Jamestown, Virginia, an, die der dortigen, zwei Jahre zuvor gegründeten, ersten dauerhaften englischen Kolonie Hilfe bringen sollten (die allererste englische Kolonie Roanoke in North Carolina wurde 1586 nach einem Jahr aufgelassen, ein zweiter Siedlungsversuch dort 1587 scheiterte unter ungeklärten Umständen: Die Siedler verschwanden spurlos.

Die Siedler waren just zu Beginn der ärgsten Dürre seit 800 Jahren gelandet, kannten das Land nicht, konnten nicht genug Getreide erzeugen. Als sie anfingen, die Powhatan-Indianer zu bestehlen und ihre Dörfer anzugreifen, belagerten die ab Oktober 1609 bis Juni 1610 das Fort James. Die Vorräte gingen ob der Neuankömmlinge von den sechs Schiffen rascher aus als befürchtet. Von gut 300 Siedlern überlebten 60. Sie aßen Pferde, Hunde, Eichhörnchen, Schuhsohlen und am Ende ihre Toten.

Fleisch von den Wangen geschabt

Das Mädchen, das nun den Namen „Jane“ erhielt, lebte nicht mehr, als jemand versuchte, ihren Schädel aufzubrechen, Fleisch von den Wangen schabte und ihre Schienbeine brach. Im Computer hat man ihr Antlitz zu rekonstruieren versucht; es wird im archäologischen Museum in Jamestown ausgestellt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.05.2013)

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