Frankreich: Die moralische Revolte der Anti-68er

Frankreich: Die moralische Revolte der Anti-68er
Frankreich: Die moralische Revolte der Anti-68er(c) EPA (ETIENNE LAURENT)
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Nach Inkrafttreten des umstrittenen Homo-Ehe-Gesetzes in Frankreich formiert sich eine konservative Bewegung, die jede Liberalisierung der Gesellschaft ablehnt.

Paris. Für eine Abschiedsveranstaltung oder eine letzte Ehrenrunde war die Demonstration gegen die gesetzlich eingeführte Homo-Ehe am vergangenen Sonntag mehr als beachtlich. Laut Polizei waren es 150.000 Menschen, die durch die Straßen von Paris zogen. Die Organisatoren sprechen von mehr als einer Million. Ebenso selbstbewusst erklärte die Sprecherin der Bewegung „La Manif pour tous“ (der Name „Demo für alle“ ist eine Anspielung auf das Homo-Ehe-Gesetz mit dem Titel „Heirat für alle“), Ludovine de la Rochère, zur Bilanz der Mobilisierung: „Das ist die bedeutendste soziale Bewegung, die Frankreich seit dem Mai 1968 erlebt hat.“

Der Vergleich mit der Jugendrevolte von 1968 kommt nicht von ungefähr. Im Verlauf der vergangenen Monate wurde die ultrakonservative Front jener, die den Homosexuellen das Recht auf Ehe und Adoption absprechen, oft als „Anti-Mai-68“ charakterisiert: Auf die libertäre sexuelle Revolution folge als Gegenbewegung eine konservative moralische Konterrevolution. Neben dem eigentlichen Anlass, dem Gesetz der Justizministerin Christiane Taubira, geht es vielen Demonstranten in der Tat um eine manchmal noch diffuse, aber dennoch generelle Verurteilung der gesellschaftlichen Liberalisierung, für die eine andere Generation auf dem Pariser Pflaster vor 35 Jahren gekämpft hatte.

„Wir geben nicht klein bei“

Wie damals flogen Steine. Angesichts der eindrücklichen Zahl der Protestierenden aus ganz Frankreich fiel es vielen schwer, nach dieser ermutigenden Mobilisierung wie nach dem Ende einer Party ohne Termin für die nächste Runde einfach nach Hause zu gehen. Hatten sie doch in den Straßen von Paris während der Kundgebung im Chor geschworen: „Wir geben nicht klein bei. Niemals! Niemals! Niemals!“ Nachdem die oft kinderreichen Familien den immensen Platz vor dem Pariser Invalidendom verlassen hatten, begannen ein paar hundert Junge, angestachelt von gut organisierten und für Straßenschlachten ausgerüsteten Rechtsextremisten, Metallgitter, Flaschen und andere Wurfgeschoße auf das massive Aufgebot von martialisch gekleideten Polizisten zu schleudern. Diese reagierten mit Tränengas und Gummiknüppeln. Insgesamt 350 Personen wurden festgenommen, 250 wurden laut Innenminister Manuel Valls inhaftiert. Einigen Mitgliedern gelang es, beim Sitz der sozialistischen Regierungspartei an der Rue Solferino auf den Balkon zu klettern und dort ein provokatives Spruchband mit der Aufschrift: „Hollande Démission“ zu befestigen.

Am Tag danach fragten sich die Medien, ob die Bewegung nach dieser „letzten Machtdemonstration“ als eigenständige politische Kraft weiterexistieren könne. Die meisten Politologen zweifeln daran. Ein Teil der Homo-Gegner wird jedoch, meint beispielsweise „Le Figaro“, bestimmt bei der nächstbesten Gelegenheit gegen jede weitere Liberalisierung – bei Themen wie Sterbehilfe, Fragen der medizinischen Ethik oder der versprochenen Einführung eines kommunalen Ausländerstimmrechts – wieder reagieren und Druck auf die Regierung ausüben. Mit diesem latenten Widerstand von konservativen Bevölkerungsteilen, deren Existenz man in den Medien bisher weitgehend ignoriert hat, muss nun auch Präsident François Hollande rechnen.

UMP tief gespalten

In den Reihen der Homo-Ehe-Gegner gibt es viele Junge, die sich bei der Organisation von Kundgebungen und anderen Protestaktionen neu politisiert haben. An rechten Parteien und rechtsextremen Gruppen sowie religiösen Zirkeln, die sich ihnen als politische Heimat empfehlen, mangelt es nicht. Die Versuchung, den Elan der Bewegung zu instrumentalisieren, ist auch für die Opposition groß. Mit einem allzu plumpen öffentlichen Rekrutierungsversuch in den Reihen der Demonstration hat der Vorsitzende der rechten UMP, Jean-François Copé, am Sonntag Anstoß erregt. Seine Partei ist in der Frage der Fortsetzung der außerparlamentarischen Proteste zutiefst gespalten. Unter Copés Führung hat die UMP alles auf die Karte eines Kampfs gegen die Homo-Ehe gesetzt, der letztlich nicht zu gewinnen war.

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Auf einen Blick

Die Bewegung „Manif pour tous“, die gegen die vor einer Woche in Kraft getretene Homo-Ehe in Frankreich mobil macht, wird oft als Gegenbewegung zur Jugendrevolte von 1968 bezeichnet. Vielen Demonstranten geht es um eine generelle Verurteilung der gesellschaftlichen Liberalisierung. An den Kundgebungen nahmen aber auch rechtsextreme Gruppierungen und fundamentale Christen teil, die Jugendliche für ihre Ziele zu gewinnen trachten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.05.2013)

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