In Griechenland ist Kinderarbeit nur ein Kavaliersdelikt

100.000 Minderjährige sollen in griechischen Betrieben illegal arbeiten. Erfasst werden von den Behörden aber nur die Straßenkinder.

Am 22.Jänner 2013 wurde die elfjährige Margarita Nikolova in Thessaloniki von einem Autobus überfahren – ein Arbeitsunfall, wie sich herausstellte. Valbona Hystuna, Sozialarbeiterin der privaten Hilfsorganisation Arsis, kannte das Mädchen. Es war eines der etwa 400 Straßenkinder in der Stadt, noch zwei Tag vor dem Unfall hatte die Sozialarbeiterin die Kleine an einer der Ampeln der Stadt getroffen. Margarita sah damals müde aus, nur mit Mühe putzte sie die Scheiben der wartenden Autos. Als sie überfahren wurde, lenkte sie ein Kinderfahrrad, mit dem sie und andere Kinder zwischendurch spielten – eine Ablenkung von der Arbeit, die sich später als tödlich erwies.

Hauptziel der Organisation Arsis sei, mit den Straßenkindern und ihren „Arbeitgebern“ in Kontakt zu treten, erzählt Valbona Hystuna im Gespräch mit der „Presse“. Deshalb stellte die Hilfsorganisation Hystuna auch sofort an: Als Albanerin konnte sie sich mit den zahlreichen albanischsprachigen Kindern verständigen. „Es handelt sich ausschließlich um Roma-Kinder“, sagt sie, „aus Albanien, aus Rumänien, aus Bulgarien, und in letzter Zeit vermehrt aus Griechenland.“ Denn die Wirtschaftskrise hat arme griechische Roma-Familien besonders stark getroffen. Diese Familien lebten in erster Linie von Sozialleistungen, die nun gekürzt wurden.


Gefährlicher Job. Die Minderjährigen, die mitten auf der Straße betteln und Autoscheiben putzen, werden meist von ihren Verwandten „zur Arbeit“ geschickt. Entführte Kinder sind kaum darunter, auch Prostitution ist selten. Ziel von Arsis ist es, diese Kinder mit Einwilligung ihrer Familien von der Straße zu bringen. Später versucht man dann, sie in einer Schule zu integrieren. Manchmal versucht man aber auch, die Familien von der Rückkehr in die Heimatländer zu überzeugen.

Dass der Job der Arsis-Mitarbeiter auch gefährlich werden kann, lässt die engagierte Sozialarbeiterin Hystuna nur dezent anklingen. „Manchmal machen die Familien nicht mit.“ Und dann komme die Fürsorge ins Spiel. Zudem könne man beim Kampf gegen die Kinderarbeit nicht immer mit der Unterstützung der Behörden rechnen: „ Die Polizei tut so, als gäbe es diese Kinder gar nicht“, beklagt Hystuna. Und die sogenannte Kundschaft, die die „Dienste“ der Kinder in Anspruch nimmt oder ihnen Geld zusteckt? Da wird die Sozialarbeiterin zum ersten Mal wirklich streng: „Die Kunden, die stützen das System, indem sie den Kindern Geld geben.“


Hohe Schulabbrecherquote. 400 Straßenkinder wurden im vergangenen Jahr in Thessaloniki gezählt – doch die Tendenz steigt. In Athen sollen es 187Minderjährige sein, die auf den Straßen regelmäßig betteln, Sachen verkaufen oder Autos waschen. Diese Zahl ist verhältnismäßig gering im Vergleich zu Zahlen, die seit einiger Zeit in dem von der Wirtschaftskrise geplagten Griechenland kursieren: Laut Giorgos Moschos, dem griechischen Kinderombudsmann, arbeiten derzeit mindestens 100.000 Kinder und Jugendliche illegal im Land.

Das ist allerdings eine grobe Schätzung, die von der Schulabbrecherquote abgeleitet wurde: 70.000 Jugendlichen steigen jährlich als 15-Jährige aus dem Schulsystem aus. Experten gehen davon aus, dass ein großer Prozentsatz von ihnen in den Arbeitsmarkt einsteigt – illegal und unversichert. Hinzu kommt die schwer zu erfassende Zahl minderjähriger illegaler Migranten, die ebenfalls auf dem schwarzen Arbeitsmarkt schuften.


Arbeit im Tourismus. Laut offiziellen Zahlen waren im Jahr 2012 nur 1752Jugendliche zwischen 15 und 19Jahren legal in griechischen Betrieben beschäftigt – also mit einer Sonderbewilligung für minderjährige Berufstätige. Selbst beim Arbeitsinspektorat zweifelt man daran, dass diese Zahl die reale Situation auf dem Arbeitsmarkt nur annähernd widerspiegelt: „Wir gehen davon aus, dass die große Mehrheit der beschäftigten unter 16-Jährigen nicht gemeldet wird“, stellt man hier lakonisch fest.

Untersuchungen zeigen, dass vor allem in Tourismusgebieten, etwa auf den Inseln, fast drei Viertel der Schülerinnen und Schüler über 15 Jahre periodisch arbeiten. Sie helfen im Familienbetrieb aus, arbeiten als Kellner oder in anderen Gelegenheitsjobs. Angezeigt werden diese irregulären Arbeitsverhältnisse nie, sie gelten als Kavaliersdelikt. Auch Touristen scheint das nicht zu stören.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.07.2013)

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