Albanien: "Blutrache wird verschwinden"

Albanien Blutrache wird verschwinden
Albanien Blutrache wird verschwinden(c) Erwin Wodicka
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Jugendliche gegen Selbstjustiz: Das Phänomen Blutrache existiert noch immer, aber die Zahl der Fälle geht zurück. Immer mehr junge Menschen lehnen diese blutige Tradition ab.

Tirana/Wien. Bei einer Hochzeit wurde ein Mitglied der Familie Uka wohl unabsichtlich erschossen. Zeugen wurden einvernommen, und sie konnten einen alten Konflikt zwischen Täter und Opfer nachweisen. Der Täter wurde zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt. Damit war die Geschichte, die sich vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges zugetragen hatte, beendet – zumindest vorerst.

Mehr als 60 Jahre später kehrte Blerim Uka, ein Mitglied der Familie des damaligen Opfers, von seinem Studium in den USA nach Albanien zurück. Er traute seinen Ohren nicht, als er erfuhr, dass sein Onkel den Fall neu aufrollen wollte. Aus Rache für die Tat von damals sollte ein junger Bursch sterben. Und diesmal sollte nicht das Gericht Recht sprechen, sondern der Kanun – ein Gewohnheitsrecht der Bergbewohner im Norden Albaniens, das aus dem 15.Jahrhundert datiert. Der Kanun regelte Bereiche wie Ehe-, Schuld-, Jagd- und Strafrecht und erlaubte der Opferfamilie im Fall eines Mordes, sich an den Tätern zu rächen – eine besondere Art von Selbstjustiz, die Blutrache.

Blerim Uka wurde aufgefordert, den Enkel des Täters, Ilir Sopjani, zu töten. Blerim aber weigerte sich, brach den Kontakt zu seiner Familie ab und floh nach Kanada. „Ich musste jede Sekunde an den zu Hause eingesperrten Ilir denken“, schreibt er in seinem Blog. Blerim Uka tritt heute als Publizist öffentlich im Internet und in Zeitungen gegen die Blutrache auf.

6000 Opfer in zwei Jahrzehnten

Laut den statistischen Daten sinken die Opferzahlen von Blutrache in Albanien. Allerdings berichten Medien immer wieder von Mordfällen und Menschen, die aus Angst vor einer Blutrache in Isolation leben. Diese Berichte seien teilweise sehr undifferenziert, erklärt der bekannte Aktivist Gjin Marku der „Presse“. Marku leitet das Komitee der Nationalen Aussöhnung in Tirana. Blutrache werde so dargestellt, als gehöre sie zum Alltag Albaniens – und das sei völlig falsch. Von dieser Tradition seien nur Teile des Nordens betroffen, und selbst da ginge die Zahl der Fälle stark zurück. „Albanien ist zwar eine junge, aber stabile Demokratie und verfügt seit 1993 über ein modernes Gesetz mit Grundfreiheiten und Menschenrechten, die den Vergleich mit internationalen Standards nicht zu scheuen braucht“, sagt Marku.

Seine Aussagen werden durch die statistischen Angaben des Ombudsmannes für Menschenrechte, Igli Totozani, bestätigt. Demnach sind zwar 6000 Menschen in den letzten 22 Jahren der Blutrache zum Opfer gefallen (was zeigt, dass das Phänomen noch immer präsent ist), doch die Lage hat sich im Vergleich zu den Jahren nach dem Regime Enver Hoxhas (1944–1985) enorm verbessert. Wurden in den 1990er-Jahren jährlich 400 bis 600 Menschen aus Rache getötet, sind es derzeit 140.

Zwischen 2000 und 2005 habe es 70 Mordfälle pro Jahr gegeben, erzählt Gjin Marku. Rund 200 Fälle pro Monat wurden vom Komitee, das Marku leitet, geschlichtet. Das Ergebnis sei der engen Kooperation zwischen Justiz und Zivilgesellschaft und dem Engagement vieler Jugendlicher zu verdanken. Gerade diese wollen mit Blutrache und ihren verheerenden Folgen nichts zu tun haben, sagt Marku. Oft organisieren junge Menschen Proteste gegen diese Tradition.

Im Gegensatz zu Blerim Uka ist aber Marku kein scharfer Kritiker des Kanuns. Für seine Zeit sei er sehr fortschrittlich gewesen, da er die religiöse Toleranz gesichert hätte: „Der Kanun erlaubte damals sogar Scheidungen.“ Er habe die Blutrache geregelt und nicht gefördert. Das werde dadurch deutlich, dass Frauen, Kinder, Nervenkranke und ältere Menschen gemäß Kanun nicht aus Rache getötet werden dürfen.

Keine Unterstützung der Kirche

Gjin Marku sieht die Blutrache nicht als Hindernis für den Beitritt Albaniens in die EU. „Eine Gesellschaft wie die albanische, die religiöse Unterschiede nicht nur toleriert, sondern kaum wahrnimmt, ist sehr gut in die Europäischen Union integrierbar.“ Die Blutrache werde mit der Zeit ganz verschwinden, da sie von der albanischen Jugend nicht unterstützt werde – und auch nicht von der Kirche. Blerim Uka konnte seine Familie schließlich davon überzeugen, auf die Rache zu verzichten. Und in seinem Blog setzt er sich weiter dafür ein, dass auch andere Familien diesem Beispiel folgen. Dort bietet er eine sehr detailreiche Analyse jedes einzelnen Paragrafen des Kanuns und ruft dazu auf, sich kritischer damit auseinanderzusetzen.

Auf einen Blick

Lange Tradition. Das Phänomen der Blutrache beruht auf dem Kanun, einem Gewohnheitsrecht aus dem 15.Jahrhundert. Männliche Verwandte des Opfers erhalten durch den Kanun das Recht, männliche Verwandte des Täters zu töten. Diese Tradition wird noch heute im Norden Albaniens fortgesetzt, auch wenn es mittlerweile eine seltene Erscheinung ist. In den letzten 22 Jahren wurden insgesamt 6000 Menschen Opfer der Blutrache. Den Höhepunkt erreichte das Kanun-System in den 1990er-Jahren, damals wurden 500 bis 600 Mordfälle registriert. Aktuell sind es 140, die Zahl der Fälle nimmt aber ab.

Keine Unterstützung. Die albanische Gesellschaft, die Kirche und vor allem junge Menschen unterstützen die Blutrache nicht. Daher geht der Leiter des Komitees der Nationalen Aussöhnung, Gjin Marku, davon aus, dass diese Art der Selbstjustiz allmählich ganz verschwinden wird.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.08.2013)

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