Vom Frühling, in dem die Schwalben ausblieben

JAPAN QUAKE TSUNAMI NUCLEAR ANNIVERSARY
JAPAN QUAKE TSUNAMI NUCLEAR ANNIVERSARYAPA/EPA/KIMIMASA MAYAMA
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Am 11. März jährt sich die Tsunami- und Reaktorkatastrophe von Fukushima zum dritten Mal. Sie hat das Leben hunderttausender Menschen teils drastisch verändert.

Am 11. März 2011 löste ein gewaltiges Erdbeben vor Japan einen Tsunami aus, der mehr als 18.500 Menschen tötete und Teile der Ostküste zerstörte – darunter das Atomkraftwerk Fukushima I. Mehrere Reaktoren wurden zerstört, Strahlung trat aus, die Stadt und ihr Umland wurden geräumt – und sind bis heute weitgehend immer noch nicht bewohnbar.

Die Salzburger Japanologin und Journalistin Judith Brandner hat dieser Tage ein Buch mit 13 Porträts direkt betroffener Japaner veröffentlicht, deren Leben seither eine andere Richtung genommen hat. „Die Presse am Sonntag“ bringt eines davon in Auszügen.


***

Die Biobäuerin Sachiko Sato

Wir sitzen in ihrem ungeheizten Büro, ebenerdig in einem abweisenden Betonbau in Fukushima-Stadt, und wärmen uns bei Tee. Welch ein Kontrast zum schönen alten Bauernhof, auf dem Sachiko Sato vorher gelebt hat, einem Holzhaus, wie es nicht mehr oft zu finden ist in Japan, mit dunkel glänzenden Fußböden, umgeben von Reis- und Gemüsefeldern und einem Garten. Felder und Garten sind nun von Unkraut überwuchert. Yamanami heißt der Bauernhof von Sachiko Sato (55), ein Ort, an dem sich die Berge wie Wellen aneinanderreihen. Sie hat es geliebt, in der Natur und mit der Natur zu leben und auf ihrem Hof den Wechsel der Jahreszeiten zu beobachten: die Blüte der Bergkirschen im Frühling und das sich täglich verändernde zarte Grün auf den Feldern und Wiesen.

„Mein Herz machte Freudensprünge über die Früchte der Erde, die da heranzuwachsen begannen“, schreibt sie in ihrem 2013 erschienenen Buch „Unter dem Himmel von Fukushima“. Es beginnt mit einer Ode an die Jahreszeiten. „Im Sommer aßen wir täglich das Gemüse, das wir im Garten ernteten. Ich bereitete Köstlichkeiten wie Misosuppe mit Auberginen und grünen Bohnen oder eingelegte Gurken zu.“ Den Herbst verbinde sie mit reifen Reisähren und dem Duft von Osmanthus fragrans, der gelb blühenden Duftblüte aus der Familie der Ölbaumgewächse. So süß ist deren Duft, dass er die heftigen Beschwerden mindern konnte, unter denen sie am Anfang ihrer ersten Schwangerschaft litt.

Im Winter schließlich, wenn in der Tohoku-Region im Norden viel Schnee liegt, ruhen die Reisfelder. Da gilt es, für ausreichend Vorrat an Brennholz zu sorgen, Reparaturen an Haus und Hof zu machen und die Vorbereitungen für Neujahr zu treffen: Reis wird gestampft und zu Mochi verarbeitet, klebrigen Reisküchlein, die zu Neujahr gegessen werden. Das ist der Zyklus des bäuerlichen Lebens, das Sachiko Sato Jahr für Jahr geführt hat, mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern. „Es war ein Leben inmitten der Natur und ich konnte täglich auf meiner Haut spüren, wie wichtig das Leben ist“, schreibt sie.

Der 11. März 2011 war eine Zäsur, die diesen Kreislauf unterbrochen hat. Bald habe sie die Veränderungen bemerkt, mit denen die Natur auf die Katastrophe reagiert hat. „Es war Frühling, doch nur wenige Schwalben waren gekommen! Es war Sommer, doch ich hörte den Ruf der Zikaden kaum. Und im Herbst blieben die Spatzen aus, die sich sonst in den abgeernteten Reisfeldern tummelten.“ So ähnlich sei es damals gewesen, als die Bucht von Minamata mit Quecksilber vergiftet war: „Erst erkrankten die Katzen, dann litt ein großer Teil der Bevölkerung an der Minamata-Krankheit.“ Und so ähnlich wie die Regierung damals in den 1950ern und 1960ern verhalte sich das offizielle Japan auch im Fall Fukushima: Die Regierung verleugne, dass die Menschen massiv geschädigt worden sind.

„Japan ist ein Land“, sagt Sachiko Sato, „das immer und zu jeder Zeit die Wirtschaft und ihre Interessen über das Wohl der Menschen stellt. Japan ist ein Land, das sich für die Gewinne der Großkonzerne starkmacht, statt das Leben der Bevölkerung zu schützen und alles daranzusetzen, um die Zukunft der Kinder zu sichern.“

Sie erkenne hinter der Katastrophe von Fukushima auch dieselben Strukturen wie hinter dem Kupferminenskandal von Ashio: Die Kupfermine von Ashio war ab 1880 Schauplatz der ersten Umweltkatastrophe Japans. Giftige Abwässer gelangten in nahe Flüsse. Innerhalb eines Jahrzehnts starb die gesamte Fischpopulation der Flüsse. Dreitausend Fischer verloren ihren Job. Giftschlamm aus der Mine verwandelte die einst an Reisfeldern reiche Gegend in eine unfruchtbare Mondlandschaft. Die Abholzung der umliegenden Wälder zur Expansion der Mine führte zu Überflutungen. 1973 (!) wurde die Mine geschlossen.

Unser Treffen im kalten Büro in Fukushima-Stadt ist eine ernüchternde Begegnung; vom Elan der optimistischen Sachiko Sato, mit der ich im Herbst 2011 zum Interview ins japanische Parlament marschiert bin, ist nichts mehr zu spüren. Damals ist sie voller Hoffnung auf den baldigen Atomausstieg gewesen. Damals hat sie noch an einen tieferen Sinn der Atomkatastrophe geglaubt, einen Sinn, den sie von der Bedeutung der Schriftzeichen abgeleitet hat, mit denen Fukushima geschrieben wird: fuku shima – die Glücksinsel, die Insel voller Glück.

Wir schauen Fotos an, die sie kürzlich in der Nähe ihres Bauernhofes gemacht hat: große schwarze Plastiksäcke, aufgestapelt am Waldrand. Dekontaminiertes Material, vorübergehend zwischengelagert. In der Präfektur Fukushima veröden ganze Landstriche. Die Regierung setzt alles daran, die Leute zurückzuführen. Deshalb wird dekontaminiert, werden die Evakuierungszonen wieder und wieder neu eingeteilt und evakuierte Gemeinden für Rücksiedler freigegeben. „Weil die radioaktive Belastung dort unter dem gesundheitsgefährdenden Niveau liegt“, sagt Sachiko Sato. Sie geht trotzdem nicht zurück auf ihren Hof.

Hausfrau, Mutter und Bäuerin war Sachiko Sato, ehe sie mit über fünfzig Jahren zur Aktivistin wurde. In Kawamata-Machi, rund 45 Kilometer vom AKW entfernt, hat sie einmal natürlichen Landbau betrieben. Ihr Lehrmeister war der Bauer und Autor Yoshikazu Kawaguchi (*1939), Pionier der „Natürlichen Anbaumethode“. In der von ihm gegründeten Schule für Natürlichen Anbau gibt er sein Wissen weiter. Er lehnt nicht nur chemische Spritzmittel, Unkrautvernichtungsmittel oder Dünger vehement ab, sondern Eingriffe in die Natur an sich. Er pflügt etwa nicht, weil dadurch „Gras und Insekten wie Feinde behandelt werden“. Die Saat möge sich selbst entwickeln. „Es gibt keine ,Nützlinge‘, es gibt keine ,Schädlinge‘, alle Lebewesen haben ihren Platz“, ist sein Credo. Selbstverständlich verträgt sich das nicht mit Radioaktivität.

Sachiko Sato hat ebenfalls eine Schule für Natürlichen Anbau ins Leben gerufen. In der Praxis kann sie es nicht mehr erproben: Im April 2011 maß sie auf ihrem Hof eine radioaktive Belastung von 2,5 Mikrosievert. Das Erdbeben hatte den Brunnen versiegen lassen. Da war ihr klar, dass es für sie dort keine Zukunft mehr gibt. Ihre Familie brachte sie am Tag nach dem Unfall im AKW in Sicherheit. Schon seit 1986 ist Sachiko Sato gerüstet. Im Jahr der Atomkatastrophe von Tschernobyl war ihr ältester Sohn vier, mit ihrer ältesten Tochter war sie schwanger. Tschernobyl rüttelte sie auf. Ihr Nichtwissen über die Gefahren der Atomtechnologie gab ihr zu denken und sie begann zu studieren, wie sie sagt.

Erstmals wurden ihr die Gefahren bewusst, die vom Atomkraftwerk in ihrer Nachbarschaft ausgehen. Damals beschloss sie, ihre Kinder 100 Kilometer weit weg zu bringen, sollte es je zu einem Unfall im AKW Fukushima kommen. Als Fluchtziel legte sie Yamagata fest. Und so geschah es. Am Tag nach der Katastrophe rief sie ihren Freund in Yamagata an. Der sagte: „Sachiko-San, jetzt ist der Zeitpunkt da, da du fliehen musst. Komm so schnell wie möglich!“

Sachiko Sato hörte nicht auf, sich Gedanken über die anderen Kinder zu machen, die in der Präfektur Fukushima leben, 300.000 an der Zahl. Im Mai 2011 gründete sie mit rund 250 Mitarbeitern die Plattform „Fukushima-Netzwerk zum Schutz der Kinder vor Radioaktivität“, „kodomo-net“. Man will alle Kinder aus Gebieten mit erhöhter Belastung bringen. Der Initiative verdankt Fukushima-Stadt zudem eine Klinikkooperative, einen Bioladen und eine Messstelle, bei der es einen Ganzkörperzähler für Kinder gibt, und bei dem man Lebensmittel auf ihre Strahlenbelastung hin testen lassen kann.

April 2013 lehnte das Oberste Gericht von Sendai die kollektive Evakuierung der Kinder aus Fukushima ab. 14 Pflichtschulkinder aus Koriyama, rund 55 km vom AKW entfernt, hatten auf das Recht geklagt, in sicherer Umgebung lernen zu dürfen. Die Kläger, die auch von Satos Netzwerk unterstützt wurden, wollten erreichen, dass eine Umgebung erst als „sicher“ gilt, wenn die Belastung unter einem Millisievert pro Jahr liegt. Laut Internationaler Strahlenschutzkommission liegt die zulässige Jahreshöchstbelastung zwischen 1 und 20 Millisievert. Japans Regierung erklärte eine Höchstbelastung von 20 Millisievert für die Präfektur für zulässig. Das Gericht lehnte die Klage ab, räumte jedoch ein, dass die radioaktive Belastung langfristig zu gesundheitlichen Risken führen könnte.

Das Urteil hat zur weiteren Verunsicherung der Menschen in Fukushima beigetragen und auch Satos NGO einen Dämpfer versetzt. 2011 hatte sie noch gehofft, dass daraus eine große Bewegung gegen Atomenergie entstehen könnte, vielleicht eine neue Frauenbewegung. Demonstrationen sowie ein Sitzstreik der Frauen von Fukushima im Regierungsviertel von Tokio machten ihr Mut. Dass Frauen aus einer ländlichen Randregion ihre Stimme erheben, war etwas Neues. Das Bild der Frau aus der Tohoku-Region ist das einer robusten, aber unterwürfigen Frau, die im Winter eisige Kälte aushält, auf dem Feld arbeitet wie ein Mann, gleichzeitig aber still die Männerherrschaft der bäuerlichen Gesellschaft erduldet.

Aber der Kampf hat an Schwung verloren. Das offizielle Japan lehne es ab, die Stimmen aus Fukushima zu hören, sagt Sachiko Sato. Sie konzentriert sich nun auf Informationsarbeit, versucht Spenden für Flüchtlinge aufzutreiben, die keine Entschädigungen erhalten. Die NGO-Szene ist zersplittert und kodomo-net hat nur mehr rund ein Dutzend Mitstreiterinnen in Fukushima. Wer konnte, ist weggezogen.

„Das Schlimmste ist“, sagt Sachiko Sato, „dass mit dem GAU unser normales Leben verloren ging und wir es nicht mehr zurückbekommen.“


Redaktionell bearbeitet und gekürzt von Wolfgang Greber. Der Fotograf Katsuhiro Ichikawa stellt die Fotos unentgeltlich bereit; er möchte, dass über Fukushima und die Menschen dort berichtet wird.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.03.2014)

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