Leben im Delta – ohne fließend Wasser

Romania - Delta Dunari
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Das rumänische Donaudelta ist reich an Naturschätzen, doch seine Bewohner sind arm. Sie hoffen auf Einnahmen aus dem sanften Tourismus. Eine Reportage aus dem Buch "Lesereise Donau".

Es dauert vielleicht eine Viertelstunde. Dann kommt sie gekrochen durch die dicken Wollsocken, die Thermohose und die Funktionsjacken, die wir über mehreren Pullover- und T-Shirt-Schichten tragen. Unbeirrbar bahnt sie sich ihren Weg, Lage um Lage, bis sie unseren Körper erreicht hat und uns im Boot erzittern lässt. Die feuchte Kälte des Donaudeltas. Von der Sonne ist an diesem Morgen keine Hilfe zu erwarten. Sie versteckt sich noch unterhalb des Horizonts.

Wir sind am Matiţa-See angelangt. Der Süßwassersee ist eine der unzähligen großen Lagunen im rumänischen Donaudelta, die sich am Ende der schilfbewachsenen Kanäle auftun. Das Wasser liegt aufgespannt wie ein Leintuch im fahlen Morgenlicht, hie und da ein paar Nebelschwaden. Als der Elektromotor das längliche Boot in die Mitte des Sees treibt, schlägt es kleine Wellen und gluckst. Es ist kurz nach sechs Uhr. Costel Canareica ist an seinem Arbeitsplatz angelangt. Er ist Fischer im Donaudelta.

In der Mitte des Sees hat er seine Netze fünf Tage im Wasser gelassen, sie sind zweihundert Meter lang und stehen senkrecht knapp unter der Oberfläche. Nun will er den Fang einholen. Canareica schaltet den Elektromotor ab und hantelt sich mit dem Ruder an der engmaschigen Falle entlang. Zieht sie aus dem Wasser, befreit den Fang aus den schneidenden Kunststofffäden, wirft ihn ins Boot. Meter um Meter. Mühselige Kleinarbeit.

Canareica macht diesen Job schon sein halbes Leben. Mit siebzehn hat er begonnen, heute ist er fünfunddreißig Jahre alt, doch er sieht älter aus. Sein kräftiger Körper steckt in einem abwaschbaren Overall, der Kopf unter einer Schlappohrenmütze. Canareica ist ein herzlicher Mann, doch die Arbeit des Fischers ist hart, und sie wirft kaum Geld ab. Fünfzehn Karauschen, drei Karpfen, zwei Hechte, ein Wels und eine Handvoll Krebse – das ist heute die ganze Ausbeute. Zu wenig, befindet Canareica, viel zu wenig. „Vergangenes Jahr waren es dreißig bis vierzig Kilo“, ereifert er sich. „Pro Tag!“

So ist die Fischerei: ein Job wie ein Glücksspiel, immer wieder eine Überraschung. Heute sind es neun Kilo Karauschen, die er gleich auf dem See weiterverkauft. Händler in Motorbooten fahren die Seen im Delta ab und kaufen direkt bei den Fischern ein. Canareica kann seine Enttäuschung nicht verbergen: sechzig Lei, fünfzehn Euro, für drei Stunden harte Arbeit. Die Hälfte der Einnahmen muss er für Benzin ausgeben. Auf dem Markt werden seine Fische um ein Dreifaches weiterverkauft. Für heute hat Canareica genug. Morgen, hofft er, ist ein besserer Tag.

Costel Canareica lebt mit seiner Frau Motja, einer drahtigen Blonden, und zwei Kleinkindern in Letea, einer Dreihundert-Seelen-Gemeinde im Norden des Donaudeltas. Auf den geschroteten Felsblöcken der Alpen, von der Donau über Jahrmillionen angeschwemmt, haben hier die Menschen ihre Siedlung erbaut. Die Holzgehöfte stehen auf Sand, in den Straßen liegt Sand, in den Gemüsegärten ebenso.

Urlauber im Pferdekarren. Unter einer Laube hat Motja ein schmackhaftes Mittagessen angerichtet. Den frischen Fisch kurz angebraten, dazu Kartoffeln und eingelegtes Gemüse. Nur ein paar Lebensmittel kaufen sie im Laden im Ort, wenn sie mehr benötigen, fahren sie mit dem Auto ins zwanzig Kilometer entfernte Sulina. „Je seltener, desto besser“, sagt Costel Canareica. Der Haushalt der vierköpfigen Familie ist exakt kalkuliert. Wenn es die Touristen im Sommer nicht gäbe, das Geld würde nicht reichen. Die Gäste führt der Mittdreißiger mit dem Pferdekarren zu den lokalen Attraktionen – einer Herde von Wildpferden und einem uralten Eichenwald, der auf einer Sanddüne wächst – und Motja bewirtet sie danach mit den Produkten aus dem Garten. Vielleicht wird die Jungfamilie demnächst den Gästen auch Nächtigungen anbieten; unlängst haben sie in ein Bad mit automatischem Warmwasser, eine neue Küche und Sitzecke investiert. Letea ist zwar in den Reiseführern bisher nur eine Randnotiz, ein Tagesausflug von den traditionellen Touristenorten Periprava oder Sulina. Doch wer den Alltag im Delta wirklich kennenlernen will, sollte es hier tun.

Dieser Alltag ist für die meisten der fünfzehntausend Deltabewohner entbehrungsreich. Länger als vier Stunden dauert die Schiffsreise von Letea in die Großstadt Tulcea am Beginn des Deltas. Im Winter sind die Ortschaften manchmal durch Eis und Schnee wochenlang von der Außenwelt abgeschnitten; im Sommer fallen die Mücken über die Bewohner her. In der fünfhundertachtzigtausend Hektar großen Wasserwelt des Deltas leben die meisten von ihnen in Ortschaften, die oft nur mit dem Schiff erreichbar sind, entlang der drei Hauptströme.

Vielen Fischern im Delta wurde in der Zeit des Kommunismus die Lebensgrundlage entzogen. Damals sollte jedes Stückchen Land einen Ertrag bringen. Naturflächen wurden in Nutzflächen umgewandelt: Durch Trockenlegung schuf man Agrarland, man errichtete Fischfabriken, begradigte Kanäle und forcierte auf riesigen Feuchtfeldern den kommerziellen Schilfabbau. Der Lebensraum für Tiere und Pflanzen verkleinerte sich, der Fischbestand nahm mit den Jahren ab, die Wassergüte ebenfalls. Ein Fünftel der Naturlandschaft, hundertsechzigtausend Hektar, ging so bis heute verloren. Tausende Menschen wurden angesiedelt, heute verfallen die niedrigen Plattenbauten wieder, denn ohne Arbeit haben auch die Ansiedler wieder das Weite gesucht. Die Fabriken sind geschlossen, die Äcker verödet. Hiergeblieben sind die Gestrandeten und die traditionellen Bewohner des abgelegenen Gebiets, nicht wenige davon russische Lipowaner, Ukrainer, Tataren. „Wo sollten wir denn hingehen?“, fragt Costel Canareica. Eine Frage, auf die er keine Antwort weiß.

Aus der Sicht der Umweltschützer ist die Deindustrialisierung des Deltas eine Chance. Vielleicht die einzige Chance der Naturlandschaft. Naturschutzorganisationen wie der WWF führen seit einigen Jahren „Rewilding“-Programme durch: Einst vom Wasser gewonnene Nutzflächen werden überschwemmt, sie sollen in ihren ursprünglichen Zustand zurückfinden, damit selten gewordene Tier- und Pflanzenarten sich wieder ansiedeln. Fünfzehntausend Hektar Land hat man so der Natur wieder zurückgegeben. Mühsame Kleinarbeit ohne unmittelbaren Ertrag. Die heutige Bedrohung sei nicht industrielle Ausbeutung, sondern „rücksichtsloser Tourismus oder Wilderei“, sagt der WWF-Süßwasserexperte Cristian Mititelu. Damit meint er die Wochenendtouristen aus Bukarest, die mit ihren Motorbooten durch Nistgebiete fahren, Wilderer und Angler, die mit Elektroschockern Dutzende von Fischen auf einmal erlegen. „Sie betrachten das Delta als Selbstbedienungsladen.“

Kleine, arme Gemeinden. Cristian Mititelu führt uns zur Bürgermeisterin von Letea. Fünf Dörfer gehören zu ihrer Gemeinde, neunhundertfünfzig Menschen insgesamt. Wir finden sie auf einem Bauplatz am Rande des Dorfes. Eine Gesellschaft macht sich hier auf dem Grundstück zu schaffen. Mehrere Männer mischen Beton, andere wieder hieven die breiige Masse in Scheibtruhen in ein Fundament. Die Frauen haben eine Tafel mit Essen aufgebaut, und Valentina Hancharenko, die Bürgermeisterin, steht mittendrin. Sie will hier eine kleine Pension mit fünf Zimmern aufbauen und ihre Familie hilft ihr – natürlich – dabei.

Hancharenko ist erst Anfang dreißig, doch sie steht mitten im Leben. Sie hat einen Mann, ein Kleinkind, die Haare zu einer unkomplizierten Frisur geschnitten, und wenn sie spricht, dann versteht man, dass sie weiß, was sie will. Seit Mai 2012 ist sie Bürgermeisterin, die Kandidatur war eine Entscheidung in letzter Minute. Die Dorfbewohner hatten genug vom letzten Bürgermeister, der sechzehn Jahre im Amt war. Hancharenko sagt, sie wolle den Lebensstandard erhöhen. Das ist keine leere Phrase, und doch leichter gesagt als getan, denn die Abgeschiedenheit des Deltas trägt dazu bei, dass auf die hiesigen Gemeinden gerne vergessen wird. Sie liegen kilometerweit zwischen dem Schilf verstreut. Sie sind klein und arm. Dennoch will die Bürgermeisterin in einer Legislaturperiode erreichen, was ihr Vorgänger seine ganze lange Amtszeit hindurch nicht geschafft hat: Wasserleitungen und Kanalisation verlegen.

Die Gemeinden im Delta liegen am Wasser, sind aber von der Wasserleitung abgeschnitten. Die Menschen haben Brunnen im Garten, manch Findiger verlegt vom Brunnen ein paar Rohre und lässt sich das Wasser ins Haus pumpen. Trinkwasser ist auch das nicht. In den Höfen stehen kleine Holzboxen, Plumpsklos. Diejenigen, die mehr Geld haben, bauen in den Häusern ein WC, die Abfälle werden in einem septischen Tank gesammelt. Hancharenko will das nicht akzeptieren. „Wir sind nicht dazu verdammt, in einem zurückgebliebenen Stadium zu leben“, sagt sie. Erst, wenn es fließend Wasser gebe, könne sich der Tourismus entwickeln. Und sie träumt von einer eigenen Straße nach Tulcea. Was wäre das für ein Fortschritt, wenn die Bewohner nicht auf den Fahrplan der Fähre angewiesen wären! All die Mühe mit den Waren, Krankheitsfällen, Baumaterial. „Auch wenn wir damit ein wenig an Ruhe verlieren würden“, sagt sie. „Wir können nicht ewig isoliert leben.“

Buchtipp

Die vorliegende Reportage stammt aus dem Buch „Lesereise Donau. Vom Schwarzwald zum Schwarzen Meer“ (Picus).

Der Band beinhaltet die Reportagen der „Presse“-Redakteurinnen Duygu Özkan und Jutta Sommerbauer.

Das Buch kann per E-Mail unter derclub@diepresse.
com bestellt werden. Preis für „Presse“-Leser: 14,90 Euro.
Der Versand ist kostenlos.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.03.2014)

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