In der Nacht, als die fremden Soldaten kamen

Symbolbild - Tendol Gyalzur gibt mit ihrem privaten Waisenhaus vielen Kindern in Tibet Hilfe und Schutz.
Symbolbild - Tendol Gyalzur gibt mit ihrem privaten Waisenhaus vielen Kindern in Tibet Hilfe und Schutz.(c) REUTERS
  • Drucken

Tendol Gyalzur hatte in ihrer Heimat Tibet alles verloren. 30 Jahre nach ihrer Flucht wollte sie dem Land aber etwas zurückgeben und baute ein Heim für tibetische und auch für chinesische Waisenkinder.

Man ist nicht Mensch, weil man geboren ist, man muss Mensch werden.
(Oskar Kokoschka)

Ngawang Norbu ist ein Waisenkind aus Lhasa. Er steht in seinem kleinen, einfach eingerichteten Zimmer. Seine Habseligkeiten hat er in eine Kiste gepackt. Auch die Weltkarte mit den vielen Ländern dieser Erde, die Ngawang nur aus Erzählungen kennt und immer an der Zimmerwand bewundert hat. Jetzt liegt sie gefaltet ganz unten in der Kiste. Darauf sein abgegriffener Teddybär und ein Spielzeugflieger.

Ngawang nimmt Abschied von seinem Zimmer. Er streichelt über die Wände, er will sein Zuhause der letzten Jahre noch einmal fühlen. „Ich rieche an der Wand, um den Geruch für immer in meinem Gedächtnis zu behalten,“ erklärt er. Hinter ihm steht Tendol Gyalzur. Jene Frau, die ihm ein neues Zuhause gegeben hat. Tendol hat das erste private Waisenhaus in Lhasa vor 20 Jahren aufgebaut und in diesem Heim hunderten Kindern Hilfe und Schutz gegeben. Tendol und Ngawang verlassen das Haus mit der Gewissheit, dass es in ein paar Tagen dem trockenen Erdboden Tibets gleichgemacht werden wird. Das Gebäude des Kinderhilfswerks wird abgerissen, es muss einer mehrspurigen Straße weichen, und Tendol steht mit 62 Jahren noch einmal vor der Aufgabe ihres Lebens. Sie muss von vorn beginnen.

Tendol Gyalzur – wer ist diese Frau, und warum möchte ich über sie schreiben? Es war fast genau vor vier Jahren, an einem Sonntag, als ich mit meinem Mann durch Lhasa spazierte und mich Tibet, dieses sauerstoffarme und faszinierende Land, mit seinen positiven und negativen Seiten in den Bann zog. Ein Jahr später lernte ich dann in Österreich durch Zufall Tendol kennen. In vielen Gesprächen erzählte sie mir ihre Geschichte, und ich finde, sie gehört weitererzählt. Eine Geschichte, die zeigt, dass man Wut und Vorurteile überwinden und mit einem Traum und einer großen Portion Willenskraft die Welt ein kleines Stückchen besser machen kann.

Schicksalhafte Nacht. Die Geschichte der Tendol Gyalzur ist eine beeindruckende. Sie beginnt 1959, während des Tibet-Aufstandes. Es ist jene Nacht, in der tausende Tibeter dem Dalai-Lama nach Indien folgen. Und es ist jene Nacht, in der die siebenjährige Tendol ihre Eltern verliert. Was genau in jener Nacht geschah, darüber redet Tendol nicht. Sie hat die Soldaten, die Schüsse, die toten Eltern ganz weit in ihr Unterbewusstsein verdrängt, wie sie sagt. Nur den intensiven Sternenhimmel, den sie vom Rücken eines Esels aus im Blick hatte, möchte Tendol nie vergessen.

Tendol ist also ein Waisenkind, das seine Eltern auf der Flucht nach Indien verloren hat. So wie Losang Tsultim, den sie Jahre später in einem Heim in Deutschland kennenlernt und schließlich heiratet. Nach der Hochzeit gehen Tendol und Losang in die Schweiz, dort leben die meisten Tibeter in Europa. Tendol hat ein gutes Leben, eine Wohnung, Arbeit, zwei Söhne, aber tief in ihrem Innersten fühlt sie eine nicht zu definierende Leere, wie sie sagt. Fast magisch zieht es sie in ihre Heimat Tibet zurück. Als sie dort fast 30 Jahre nach ihrer Flucht durch das tibetische Viertel spaziert, sieht sie zwei verwahrloste Kinder in einer Mülltonne nach Essen wühlen. „Von diesem Zeitpunkt an wusste ich, ich möchte den Waisenkindern Tibets, wie ich einst eines war, ein Zuhause geben“, sagt Tendol.

Der steinige Weg zum Glück. Die Familie Gyalzur lässt sich ihre Pensionen ausbezahlen, kratzt das Ersparte zusammen und bekommt von Freunden und Bekannten finanzielle Unterstützung. Mit diesem Geld wird das erste private Heim in Lhasa gebaut. Anfangs sind die Schwierigkeiten mit den Behörden groß. Und auch ihre eigene Geschichte holt Tendol immer wieder ein. Vertrauen zu fassen ist für das ehemalige Waisenkind, das in diesem Land seine Eltern verloren hat, schwer. Sie kann den Chinesen nicht verzeihen. Doch mit der Zeit wird ihr klar, dass sie auch chinesische Kinder, die Schutz und Hilfe brauchen, aufnehmen wird.

Alle diese Waisenkinder bezeichnet sie als ihre Kinder, sie liebt sie fast so wie ihre eigenen. „Meine Kinder, die im Kinderhilfswerk leben, haben mich gelehrt, zu vergeben,“ sagt Tendol. „Mir blieb keine andere Wahl, als den Mitmenschen Glauben und schließlich auch Vertrauen zu schenken. Und ich bin überrascht, wie viele gute Chinesen es gibt,“ sagt die 62-Jährige und gibt ein Beispiel, das für viele Erlebnisse steht. „Eines Tages kam ein älterer Chinese bei unserem Waisenheim vorbei. Mit grimmigem Blick stand er im Hof und sah auf unsere spielenden Kinder, auf unsere tibetischen Erzieherinnen. Dann war er plötzlich weg,“ erzählt Tendol. „Am nächsten Tag klopfte es am Tor. Der alte Mann stand mit einem schweren Sack Reis auf den Schultern da. Er lud den Sack Reis ohne Worte im Innenhof ab und ging.“

Hunderte Kinder, teilweise aus 14verschiedenen Volksgruppen, leben in Tendols Waisenheim. „Wir können von den Kindern lernen, wie man in Frieden lebt,“ meint Tendol. Sie lehrt ihre Kinder beide Traditionen, die tibetische und die chinesische. Ihre Mädchen und Buben sprechen drei Sprachen – Tibetisch, Chinesisch, Englisch. Tendol zeigt ihren Kindern das Land, die Klöster, erklärt ihnen die schwierige Geschichte und das schwierige Zusammenleben.

Nur nicht aufgeben. Doch letztes Jahr, als Tendol eigentlich das 20-jährige Bestehen des Heimes feiern möchte, ändert sich für sie und ihre Kinder alles. Behördenvertreter drohen immer wieder, das Haus niederreißen zu wollen. Zuerst wegen einer neuen Eisenbahnlinie, dann wegen einer gigantischen Straße. Tendol und ihr Mann sind gezwungen, zu verkaufen. Umgerechnet 700.000 Euro wollen sie für ihre zehntausend Quadratmeter Grund und das große Haus. Nach langen, zermürbenden Verhandlungen einigt sich Tendol mit den Chinesen auf 470.000 Euro. Ob das Geld reicht, das neue Heim aufzubauen, das weiß Tendol noch nicht. Die Verhandlungen, die Diskussionen, die vielen Sitzungen haben sie an den Rand ihrer Belastbarkeit gebracht. Doch aufgeben will sie nicht, sie möchte ihren Kindern ein neues Zuhause geben, und so hat sie vor ein paar Monaten mit dem Bau des neuen Heimes begonnen.

„Ich bin eine hundertfache Mutter,“ sagt Tendol. „Ich habe Verantwortung.“ Sie weiß gar nicht mehr, auf wie vielen Hochzeiten ihrer Kinder sie war. Elf Enkelkinder hat sie bereits, drei von ihren eigenen Söhnen. „Was möchtest du deinen Enkeln im Leben mitgeben?“ frage ich Tendol. „Da ich an die Kraft des Guten glaube, möchte ich ihnen und den Mitmenschen mitgeben, dass sie an ihre Träume glauben und diese auch verfolgen – ohne dem anderen Schaden und Leid zuzufügen“, antwortet Tendol lächelnd. Und sie schaut auf Fotos ihrer Kinder. Auf Fotos des alten und des neuen Heimes. Vergangenheit und Zukunft.

Zur Person

Lisa Gadenstätter,
geb. 1978 in Zell/See. Nach dem Studium der Publizistik und Theaterwissenschaften arbeitete sie bei Ö3, 2006 wechselte sie zum ORF. Seit 2007 moderiert sie „ZiB20“ und „ZiB24“.
ORF

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.03.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.