In der "heiligsten Stadt der Welt"

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epaselect ISRAEL COHANIM PRAYER PASSOVERAPA/EPA/ABIR SULTAN
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Jerusalem ist nicht wie andere Städte, auch nicht wie andere heilige Städte. Jerusalem ist schwieriger, neurotischer, umkämpfter. Ein Porträt der Stadt anhand des Lebens von fünf ihrer Bewohner.

Rund 900.000 Menschen – vorwiegend Juden, Christen und Moslems – leben heute in jener Stadt, die irgendwie biblischer scheint als alle anderen Städte der heiklen nahöstlichen Region zusammen. Für die erwähnten Religionen ist sie heilig, wenn nicht die heiligste überhaupt.

Man weiß, dass es hier, auf diesem trockenen Hochplateau in den Bergen Judäas, spätestens seit etwa 3000 vor Christus eine dauerhafte Siedlung gegeben hat und die Stadt seither mindestens 52 Mal angegriffen und davon 44 Mal von irgendjemandem erobert worden ist. Seit 1967 befindet sich das gesamte Stadtgebiet unter Kontrolle des Staates Israel. Leben in Jerusalem ist ein besonderes Leben, ein Balanceakt über stetig schwelenden Konflikten, vor allem zwischen Juden und Moslems, und eingekeilt zwischen religiösem Eifer, Terror und der puren Lust auf Normalität. Wir haben fünf Menschen aus Jerusalem befragt, wie sie diese Stadt erfahren. Und wie sie sie ertragen.

Tal Kendror: "Der wahre Weg ist der der Gottesfürchtigen"

Tal Kendror ist seit 15 Jahren ultraorthodox. Die Eltern und Großeltern kamen einst aus dem Irak. Sie hielten sich an das traditionelle Judentum, aßen meist koscher und fasteten an Jom Kippur. Das war ihm aber nicht genug: Für Kendror ist der wahre Weg der der Charedim, zu deutsch: der Gottesfürchtigen.

Der 39-jährige Vater von sechs Kindern zog deshalb in ein ultraorthodoxes Wohnviertel Jerusalems. Seine Werkstatt hat der Tischler in Mea Schearim, wo die Frommsten der Frommen leben. Er ist froh über seine gewählte Lebensform, die ihm alles ordne und erleichtere: „Den Hausfrieden, die Verbindung von Mann und Frau, die Erziehung der Kinder, überhaupt liebe ich die ganze Atmosphäre und den Glauben zu unserem Herrn, gepriesen sei er“.

Kendror liebt den Schabbat, an dem die frommen Juden weder mit dem Auto fahren dürfen noch nur den Lichtschalter betätigen. Am siebten Tage sollst du ruhen, so schreibt es das Alte Testament vor. „Die Kinder ziehen sich saubere und hübsche Kleider an“, schwärmt Kendror. „Es gibt gutes Essen, Gesang und Gebete.“ Für ihn sei es ein „großes Privileg“, in der heiligen Stadt Jerusalem zu leben, die „mit keiner anderen Stadt der Welt vergleichbar ist“. Auch die weltlichen Israelis wüssten es zu schätzen, wenn am Schabbat Jerusalem von einer feierlichen Stimmung ergriffen wird.

Dass die Stadt oft Schauplatz von Kriegen und Terror war und ist, findet er bedauernswert, aber nicht nur hier gebe es Gewalt. Sicher sei man nirgendwo. Eine politische Lösung für das Palästinenserproblem sieht er nicht. „Wir sind aber in der Vergangenheit ganz gut miteinander ausgekommen, warum sollte das nicht wieder so werden.“ Er selbst arbeitet mit Palästinensern zusammen. Das habe schon sein Vater so gehalten, der 40 Jahre lang Tischler war und von dem er das Handwerk lernte.

Einer sollte den anderen nicht stören. Was für Jerusalem wichtig sei, sei „den Status quo mit den Weltlichen aufrechtzuerhalten“. Einer sollte den anderen nicht stören. Dazu gehöre, dass „die Weltlichen keine Demonstrationen hier abhalten und darauf achten, den Schabbat zu ehren“. Der neue Kinokomplex Cinema City müsse deshalb am Wochenende zu bleiben. Vom Streit um das Kino abgesehen, der vor dem Obersten Gerichtshof ausgefochten wird, „funktioniert die Koexistenz mit den Weltlichen bestens“.

Olga Z.: "Sie können mich jeden Tag rausschmeißen"

Mit dem Auftrag, als Altenpflegerin für eine Holocaust-Überlebende zu arbeiten, landete Olga Z. vor 15 Jahren auf dem Flughafen Ben Gurion. Da war sie 34 und aufgeregt, endlich in das Land zu kommen, von dem sie schon so viel gehört hatte.

Sechs Monate später lief Olgas Visum ab. Seither ist sie illegal im Land. Das Innenministerium lehnte ihren Antrag auf Verlängerung ab. Olga blieb trotzdem. „Meine Adresse ist den Behörden bekannt“, sagt sie in fast akzentfreiem Hebräisch. Nach Wolgograd in Russland, wo ihre Eltern leben, will sie nicht mehr zurück.

Olga kümmert sich um die alte Frau, die sie liebevoll beim Vornamen nennt. „Ihre Kinder leben im Ausland.“ Absprachen finden nur telefonisch statt. Olga, die im Alter von 30 Jahren religiös wurde und den Pfingstlern beigetreten ist, wohnt bei ihrer Patientin, sorgt für den Haushalt, kauft ein, kocht.

Je besser Olga Jerusalem kennenlernte, desto stärker habe sie politisch umgedacht: „Als ich kam, war ich ziemlich rassistisch gegen Araber eingestellt. Was ich über den Konflikt dachte, war sehr in der unbewussten Angst vor Terror und Gewalt begründet.“ Bei Massagekursen, die sie besuchte, lernte Olga auch Palästinenserinnen kennen. Das und ihre hiesigen Freunde, die „fast alle links eingestellt sind“, haben ihre Einstellung verändert.

„Es macht mich traurig, wenn ich den Konflikt betrachte, nicht nur den zwischen Israelis und Palästinensern, sondern auch zwischen Weltlichen und Orthodoxen, marokkanischen Juden und äthiopischen Immigranten. Das ist alles so verrückt und überflüssig.“ Die wachsende ultraorthodoxe Bevölkerung stört sie nicht. Jerusalem verändere sich zum Guten, findet sie. Es kämen immer mehr Junge, in der Stadt gebe es mehr Leben, neue Ausgehmöglichkeiten und ein größeres Kulturangebot.


Faszinierende Stadt. Die illegal in Israel anwesende Pflegerin, die heute mehrere Sprachen spricht, ist von ihrer Umgebung fasziniert. Sie liest die israelischen Autoren im Original, kennt sich mit hebräischer Musik aus, weiß, wo die besten Lokale sind. In ihrem Freundeskreis seien auch mehr Immigranten aus den USA und England als aus Russland und der Ukraine.

„Ich bin hier zu Hause“, sagt Olga. Wenn nur nicht die Ungewissheit und jedesmal die Angst wären, wenn jemand an die Haustür klopft: „Sie können mich jeden Tag rausschmeißen.“

Ola Sarchuk: Ein Café als "vielleicht einzig zurechnungsfähiger Ort in Jerusalem"

Das Café Uganda ist ein Treffpunkt für Künstler und Liebhaber besonderer Musik. Comics und alte Platten sind die Spezialität des Ladens, wo Ola Sarchuk seit acht Jahren hinter der Bar steht. „Ich kann mir nicht vorstellen, je irgendwo anders zu arbeiten“, sagt die 33-Jährige, die an der renommierten Kunsthochschule Bezalel studierte und in ihrer Freizeit experimentelle Musik macht. Nachts wird das Uganda zur Musikkneipe. Sarchuk tritt manchmal mit ihrem Duo hier auf. Sie ist Soundfrau, spielt Bass und trommelt.

Für Sarchuk, die als Kind mit ihren Eltern aus der Ukraine nach Israel zog, ist das Café fast ein Zuhause. Sie macht es auch für andere zum Heim. „Ich ziehe hier eine Generation nach der anderen groß“, lacht sie. Man kennt sich, hält einen Plausch, das Uganda ist intim, egal wer kommt. Da sind die Studenten von Bezalel und Sarchuks achtjähriger Sohn, der sich auf seinem Fahrrad die Zeit vor dem Lokal vertreibt. Sarchuk ist wieder hochschwanger, von einem anderen Mann, der diesmal aktiv als Vater auftreten soll.

Außenseiter kommen nicht gut an. Sie ist Außenseiterin, das Wort Mainstream ist ihr verhasst. Mit ihrem übergroßen schwarzen Hemd und den Tätowierungen auf den Beinen setzt sie sich schon äußerlich ab von ihrer Umgebung. „Das kommt nicht gut an“, sagt sie und wutzelt eine Zigarette. Nicht nur Orthodoxe starren sie an, das sei nicht einfach. „Du bleibst immer fremd, wenn du so aussiehst wie ich.“ Ihre Freunde von der Kunsthochschule seien alle längst im Ausland. In Amsterdam, Berlin oder Paris, wo es überall kleine Plattenläden gibt und Kultur. „Aber hier? Der einzige Ort ist das Uganda. Das ist unglaublich.“


Frieden im Café. Dass sie selbst Jüdin ist, findet sie genauso unwichtig wie die Tatsache, dass der Laden neben dem Uganda einem Palästinenser gehört. Das Café liegt auf dem Gelände des Russian Compound, einem der ältesten Viertel Jerusalems. Kaum 100 Meter entfernt liegt das berüchtigte Untersuchungsgefängnis Al-Muskubijeh. „Ich sehe keine Zukunft für einen Frieden“, sagt Sarchuk, für die der Konflikt trotzdem irgendwo anders stattzufinden scheint. „Im Uganda gibt es Frieden.“ Das müsse gar nicht großartig deklariert werden, „es passiert von ganz allein. Da frühstückt ein Anwalt im Anzug neben einem Punk. Bei uns wird nicht selektiert.“

Diese kleine Insel Uganda, der „vielleicht einzige zurechnungsfähige Ort in Jerusalem, an dem Kunst gemacht wird anstelle von Kriegen“, will Sarchuk schützen und nähren. „Ich liebe mein Leben hier, ich liebe diese Stadt.“ Nur wenn das Uganda nicht mehr wäre, würde sie „vielleicht in die Türkei gehen oder auf irgendeiner französischen Farm Biogurken anbauen.

Nora Carmi: "Die israelische Besatzung ist eine Sünde"

„Bint el-Balad“, so bezeichnet sich Nora Carmi, „Tochter der Stadt“. Jerusalem ist ihre Heimat, die „enttäuschen kann, aber auch inspirieren“, sagt die palästinensische Christin. „Ob wir fromm sind oder nicht – Jerusalem hat für uns alle große symbolische Bedeutung.“

Seit der Zeit Jesu habe sich wenig verändert. „Wir leben in exakt derselben patriarchalischen Gesellschaft.“ Trotzdem schwärmt sie für ihre Heimatstadt. Jerusalem könne der Schlüssel zur Zerstörung sein, aber auch zum Frieden, zur Koexistenz und zur Erlösung. Nora Carmi ist „wenige Monate vor der Gründung Israels“ zur Welt gekommen, wie sie lächelnd betont. Die heute 65-Jährige und ihre zwei Schwestern wuchsen in der Altstadt auf. „Seit Jahrhunderten“ schon lebten ihre Ahnen mütterlicherseits in der Heiligen Stadt. Doch Carmi ist die Einzige, die noch in Jerusalem lebt. „Meine Schwestern leben im Libanon und in Frankreich, denn sie dürfen nicht mehr zurück“, sagt die verwitwete Mutter zweier Kinder und Oma von Zwillingen. Palästinenser, die länger als drei Jahre im Ausland leben, verlieren automatisch ihre Bürgerschaft in Israel.

„Project Coordinator – Kairos Palestine“ steht auf ihrer Visitenkarte. Carmi ist Friedensaktivistin. Das 2009 von Kirchenvertretern veröffentlichte Dokument „Kairos Palestine“ ruft die Christen in der Welt auf, Stellung gegen die israelische Besatzung zu beziehen. Carmi tritt für den gewaltlosen Widerstand und für Gebet ein. Der Glaube solle in Handeln umgesetzt werden, und „in diesem Handeln finde ich meinen Glauben“, sagt Carmi, die sich in ihrer Gemeinde engagiert. „Teil einer Gemeinde zu sein bedeutet, Teil des Jerusalemer Mosaiks zu sein.“

Es gibt kein Miteinander. Früher unterrichtete sie junge Palästinenserinnen in Flüchtlingslagern. Jetzt engagiert sie sich verstärkt in politischer Arbeit. „Die Besatzung ist eine Sünde“, sagt sie und schimpft über die vielen Minisiedlungen in der Altstadt, mit denen die Palästinenser zurückgedrängt werden. „Diese Häuser wurden mit dem Segen der israelischen Regierung gestohlen.“

Ein Miteinander zwischen lokaler Bevölkerung und Siedlern finde nicht statt. „Das sind Ghettos, da ist weder normales Leben noch Kommunikation unter Nachbarn.“ Vor allem Christen zögen weg. Immer mehr Läden im Basar des christlichen Viertels werden von Muslimen übernommen. Carmi und ihre Töchter wollen bleiben.

Hassan Ekermawi: "Die Mauer wird niemals Frieden bringen"


Mit Hassan Ekermawis Tante-Emma-Laden endet Jerusalem. Vor gut zehn Jahren entschied die israelische Regierung über den Bau von Trennanlagen zum Schutz gegen den islamistischen Terror. Wenig später kamen Bauarbeiter, und das palästinensische Viertel Ras el-Amud, wo Ekermawis Laden steht, wurde von Jerusalems Vorort Abu Dis abgeschnitten.

Die Mauer zerteilt die Straße, die einmal zweispurig war, genau in der Mitte. Ekermawi schaut von seinem Geschäft aus direkt auf das hässliche Bauwerk. „Am Anfang meines Lebens war die Mauer eineinhalb Meter hoch, am Ende also an die zwölf Meter“, sagt der Palästinenser. Die Mauer werde aber niemals Frieden bringen.

Hassan war elf, als israelische Truppen 1967 die erste Mauer, die direkt an das Haus seiner Eltern grenzte, abrissen. Heute liegt es mitten zwischen dem Osten und Westen der Stadt. Knapp 20 Jahre vorher, im israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948, war die Familie aus dem heutigen Nobelviertel im Westjerusalemer Ein Karem geflohen. „Meine Eltern hatten vom Massaker in Dir Jassin gehört, wo die Juden Alte, Frauen und Kinder töteten“, also ließen sie sich im jordanischen Gebiet gleich hinter der Grenze nieder. Im Sechstagekrieg 1967 besetzten aber die Israelis Ostjerusalem und das Westjordanland. An der Stelle der Mauer, über die der kleine Hassan einst die jüdischen Nachbarn beobachtet hat, laufen heute eine sechsspurige Straße und eine Stadtbahn.

Ekermawi lebt noch im Haus seiner Eltern. Um seinen Laden zu erreichen, muss er in den Osten der Stadt. Das Geschäft bringt gerade genug ein, um seine vierköpfige Familie und eine Schwester zu ernähren. „Mein Vater öffnete den Laden 1962“, sagt Ekermawi, der Biologie studiert hat. Das Geschäft lief so gut, dass er reisen konnte. „Ich war jedes Jahr im Ausland“, schwärmt er, „doch seit es die neue Mauer gibt, komme ich nicht mehr aus Jerusalem.“

„Die Juden kamen erst später.“ Wegziehen kommt für ihn nicht infrage. Jerusalem sei die Heilige Stadt für Muslime und Christen. „Für mich ist sie wichtiger als für die Juden, denn meine Familie lebte immer hier, aber die Juden kamen erst vor ein paar Jahrzehnten.“ Vor 1948 habe sein Vater einen jüdischen Freund gehabt. Als Israel Ostjerusalem besetzte, „kam er aus Tel Aviv nach Jerusalem, um uns zu besuchen. Aber heute hasst der eine den anderen. Es wird nie Frieden geben.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.04.2014)

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