Ruanda: Massenmord unter den Augen des Klerus

Preserved skulls including those belonging to children are displayed on a metal shelf in a Catholic church in Nyamata
Preserved skulls including those belonging to children are displayed on a metal shelf in a Catholic church in NyamataREUTERS
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900.000 Menschen wurden vor 20 Jahren in Ruanda in nur wenigen Monaten getötet. Welche Rolle spielte die Kirche beim Genozid?

Wie eine Figur Giacomettis läutet eine Nonne vor schwarzen Vulkanbergen, grünen Hügelketten, opalenen Seen zur Morgenandacht auf einem über 2000 Meter hohen Plateau im Norden Ruandas. Es ist der letzte Freitag im März 2014. Rosen und Orchideen säumen den flachen Rundbau des Foyer de Charité; das Rot seiner Ziegel lässt die dunklen Umrisse der separat stehenden Glocke mit der schwingenden Gestalt wie ein Mahnmal im Paradies erscheinen. Vor 20 Jahren wütete auch hier der Genozid.

Die Ordensfrau lädt mit sparsamer Geste in den Kapellenraum ein. Dort warten Sesselreihen im Halbkreis; ein Altar aus Stein, dessen Teile aus den verschiednen Regionen des Landes stammen; weiße Wände; und ein ungewöhnliches, mit polnischen Nationalsymbolen versehenes Sakralgemälde, dessen rot-weiß bekränzte Madonna päpstliche Schuhe trägt wie einst der selige Karol Wojtyla. Der polnische Papst kam auf den Spuren Petris auch in das Land der 1000 Hügel, feierte im September 1990 im Hauptstadtstadion von Kigali wie ein Popstar neun Dekaden katholischer Missionsarbeit, die mit acht Diözesen, über 120 Pfarreien, Millionen von Getauften fast die gesamte Bevölkerung für die römische Kirche bekehrt hat.

Zehn Gebote mit Hasstiraden

Ordensfrau Aurea, die damals zwölf Jahre alt war und noch als Rosette Uwera zur Dorfschule ging, durfte zum großen Kirchenfest mit nach Kigali fahren. „Dort überwältigte mich“, wie Aurea, „die Leuchtende“, später bekennen sollte, „der Geist Gottes“. Zehntausende waren beseelt vom intonierten Furioso aus Chören und Trommlern, von der Aura dieses Heiligen Vaters. Doch die festliche Euphorie war trügerisch, verdeckte nur kurz die Untiefen der nationalen Seele: In ihr rumorte schon – auch von der Kirche genährt – der Dämon. Die von einem lokalen Organ lancierten „Zehn Gebote der Hutu“ inkludierten Hasstiraden; unterstellten den „ungläubigen“ Tutsi, gegen die Hutu-Mehrheit einen Ausrottungsfeldzug vorzubereiten; bezichtigten all jene, die mit den Tutsi verkehrten, des „Verrats wider den Herren“.

Die religiös intonierte Sprache kam aus einer fatalen Tradition: Bereits 1957 stand der apostolische Vikar von Kabgayi, Monsignore Perraudin, für das „Hutu-Manifest“ Pate, das zwei Jahre später die ersten Massaker und Massenvertreibungen von Tutsi provozierte; das Papier machte die ethnische Hetze zur Staatsdoktrin. Während der kommenden 30 Jahre – noch vor dem Genozid – flüchteten mehr als eine Million Tutsi aus Ruanda in benachbarte Länder.

Diesen Sündenfall ließ Johannes Paul II. in seiner sonst so nachdrücklichen Jubiläumspredigt unerwähnt; auferlegte seiner Kirche für diese Schuld weder Reue noch Buße. Dieser Papst, dieser konservative Revolutionär, war widersprüchlich – auch in Ruanda: Er tröstete Arme und Kranke; zürnte der Gier der Reichen; sprach von der Liebe Gottes für alle Menschen. Gleichzeitig aber geißelte er mit päpstlicher Strenge im hoffnungslos überbevölkerten, von Aids heimgesuchten Kleinstaat Verhütung und Geburtenregelung. „Da setzte der Jubel aus“, erinnert sich die sanftmütige Afrikanerin, „da war ich verstört, weil plötzlich kritische Fragen den Heiligen Vater nur mehr schweigen ließen.“

Ein Glockenschlag und helle Stimmen heben an, geleiten einen weißen Pater im priesterlichen Fastenkleid zum Altar. Der Geistliche aus Polen wendet sich mit leiser Stimme den liturgischen Texten zu. Dass der 63-jährige Zdzislaw Zywica seit über 30 Jahren in einem christlichen Orden in Ostafrika lebt, hat auch mit seinem berühmten Landsmann Karol Wojtyla zu tun.

Staatschef mit zitternden Knien

.Als dieser nach nur elf Monaten im Amt im September 1979 als Bischof von Rom seine polnische Heimat besuchte und der kommunistische Staatschef, General Jaruzelski, mit zitternden Knien vor dem Staatsgast stand, beschloss der damalige Jungpriester, in die Welt hinauszugehen. Denn die römisch-katholische Kirche brach mit Seiner Heiligkeit auf, die Welt zu verändern. Das Sowjetsystem kollabierte; der Gottesstaat der Apartheid auch. Nelson Mandela und seine Weggefährten kamen nach jahrzehntelanger Haft frei und bescherten den Afrikanern Sternstunden der Menschheit. Manche riefen schon euphorisch „das Ende der Geschichte“, sprich ein „goldenes Zeitalter“ aus. Nur: Es war nicht so. Schon gar nicht im krisengeschüttelten Ruanda, wo postkoloniale Machtinteressen, bittere Armut und korrupte Eliten die ethnischen Antagonismen anheizten.

Der Priester breitet seine Arme aus, sagt auf Französisch: „Der Friede sei mit euch“, die kleine Schar von etwa 25 gläubigen Hutu und Tutsi antwortet: „Und mit deinem Geiste.“ Danach reichen sie einander die Hände, einige umarmen sich gegenseitig. Manche von ihnen sind Überlebende eines unvorstellbaren Grauens, in dem eine präzis verzahnte Massentötungsmaschinerie wütete. Zwischen April und Juli 1994 wurde Morden zur Bürgerpflicht; zum Gemeindedienst; am Ende waren über 900.000 Tutsi und auch nicht tötungswillige Hutu tot.

Schwester Aurea nickt mir mit gefalteten Händen zu: Sie wurde als 16-Jährige mit den anderen Ordensmitgliedern bereits in den ersten Horrortagen von aufgehetzten Dorfnachbarn im Foyer de Charité eingekreist, verschleppt, missbraucht; landete in der berüchtigten Sammelstelle des Vikariats Kabgayi, wo 64.000 Menschen unter den Augen des katholischen Klerus grausamst zu Tode kamen. Hat sie in diesen Zeiten des Grauens nie an Gott gezweifelt? Wo war er? „Er war bei mir, sonst wäre ich heute nicht hier. Er hat mich nie verlassen. Er gibt mir die Kraft, den Mördern, die heute wieder unsere Nachbarn sind, zu verzeihen.“

Wie sühnt die Kirche? Vergebung und Buße, Schuld und Sühne – wie geht der katholische Priester, der während des Genozids nicht im Land war, mit diesen theologischen Kategorien um? Wie tat es sein polnischer Papst? Zdzislaw Zywica umfasst mit der rechten Hand sein kleines Brustkreuz: „Dass nach derartigen Katastrophen viele mit Gott hadern, ihm zürnen, verstehe ich. Auch die vorwurfsvolle Frage, wie denn die Güte des Allmächtigen mit all dem Übel in der Welt vereinbar sei. All das ist schwer zu begreifen. Aber es ist die Sühne, die Sünder verwandelt. Es ist das Sühneopfer Christis, das uns versöhnt und erlöst.“ Das ist die Theodizee wohlformuliert.

Aber wie haben die Täter gesühnt? Hat der Papst Teile des katholischen Klerus, die das rasende Morden demagogisch flankiert haben, oder auch aktiv daran beteiligt waren, zu Sühneopfern aufgefordert? Der Geistliche neigt sich ein wenig vor, seine ruhige Stimme fällt in einen leiseren Ton, als er bekennt: „Diese Sünden sind noch lange nicht gesühnt. Viele Täter – unter ihnen auch Priester und Nonnen – sind geflohen, haben sich jahrelang auch in europäischen Ländern versteckt. In Frankreich wurden Täter regelrecht beschützt und nicht zur Rechenschaft gezogen.“ Ein Pater Seromba wurde als erster Geistlicher 2008 vom Kriegsverbrechertribunal wegen Massenmordes zu lebenslanger Haft verurteilt, nachdem er fast eineinhalb Jahrzehnte in Italien untergetaucht war. Ein wegen vielfacher Kriegsverbrechen angeklagter Bischof Misogo wurde Jahre nach dem Genozid aus Mangel an Beweisen freigesprochen.

Priester blieben im Amt

Schuld und Sühne lasteten schwer auf dem greisen, von Krankheit gezeichneten Johannes Paul II. Wozu rang er sich durch? Eine historische Entschuldigung wie bei den Holocaustopfern? Nein. Was dann? Pater Zywica legt vatikanische Schriften zu Ruanda vor; auch ein Memorandum zur Versöhnung ist dabei. Da ist ausführlich von „der Reinigung des Geistes, vom Leiden als Mittel der Läuterung“ die Rede. Es finden sich nach Matthäus 5,9 auch Appelle, „Bauherren einer Zivilisation der Liebe“ zu werden. Und sonst? Wahrscheinlich stille Bußgebete in der päpstlichen Kapelle. Es gab aber keine eigene katholische Untersuchungskommission; kaum Suspendierungen von schuldigen Priestern; kein Wiedergutmachungsfonds. Warum nicht? Geduldig und verständnisvoll antwortet der Geistliche: „Nach den Ereignissen im Genozid und mit dem politischen Umsturz erhöhte sich der Druck auf die katholische Kirche enorm. Verängstigte Bischöfe ermunterten ihre Untergebenen nicht, öffentlich Schuld einzugestehen. Sie fürchteten die Rache. Das hat den Sühne-Versöhnungsprozess im Land bis heute gehemmt. Trotzdem – vieles ist auch geglückt: Für die Jungen ist Ethnizität ein Tabu. Sie wollen Bildung, Jobs, Zukunft.“

Neuerdings signalisiert auch der starke Mann Ruandas, der seit August 1994 regierende Paul Kagame, Entspannung gegenüber der römisch-katholischen Kirche. Dem Nuntius wurde nahegebracht, der lateinamerikanische Papst solle auf Einladung der Staatskanzlei Ruanda besuchen. Der umtriebige Präsident schätzt die Effizienz der katholischen Einrichtungen im 11,4-Millionen-Einwohner-Staat.

Rauch aus dem Vulkan

Die pralle Pracht des späten Morgens dringt über das südseitige Panoramafenster in den Frühstücksraum. Auf dem höchsten der Vulkangipfel, dem 4507 Meter hohen, an den Kongo grenzenden Karisimbi, liegt Schnee. Am letzten Sonntag im April wird dieser atemberaubende Blick den Pater vielleicht hinter den Horizont, in die ewige Stadt, tragen: Dort wird Pontifex Franziskus „seinen“ Papst, Johannes Paul II., und Johannes XXIII., die beiden populärsten Päpste des vergangenen Jahrhunderts, heiligsprechen. Ob aus dem majestätischen Krater Rauch aufsteigen wir? Mag sein.

Steckbrief

Zdzislaw Zywica
lebt seit 30 Jahren in Ruanda. Der gebürtige Pole (63) fühlte sich von Papst Johannes Paul II. zur Missionsarbeit erweckt und ging als junger Priester nach Ostafrika.

Strassegger

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.04.2014)

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