Zur "Erlebnispädagogik" nach Sibirien

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Ungewöhnliche Maßnahmen im Kampf gegen Jugendkriminalität: Schwer erziehbare Deutsche werden zu "Besserungsprogrammen" in ferne Länder geschickt.

SEDELNIKOWO. Dreimal treten, dann tuckert der Zylinder des Motorrads. Basti (10) klammert sich an seinen russischen Freund Andrej, um nicht aus dem Sattel zu fliegen, als das Teil über die „Straße des 40. Jahrestags der Oktoberrevolution“ holpert. „Alter, gib Gas“, brüllt Basti. Gebremst wird mit den Schuhen.Derweil lehnt Marc an einem grünen Holztor und zieht an seiner Zigarette Marke „Peter I.“. Eine Schachtel hat der 13-Jährige schon bis zum frühen Nachmittag gepafft. Bis Abend sind's wohl zwei.

Marc und Basti sind Burschen, die in Deutschland Vollgas gaben und selten bremsten. 180 Straftaten werden Marc zur Last gelegt, von geklauten Mopeds bis zum Autodiebstahl. Er organisierte den Stoff für seine heroinsüchtigen Eltern. Dann bekam das Jugendamt den Blondschopf in die Hand. Es folgten Heime, Psychiatrie, Alkohol – und immer wieder Flucht.

Basti, ein frecher Bub mit Segelohren, hat das, was mit ihm geschah, im Unterbewusstsein vergraben. Als Kleinkind wurde er geprügelt, später lebte er drei Jahre auf der Straße, wurde wohl missbraucht, bis man ihn aufgriff. Seine Wut ist unkontrolliert, Gewalt ist für ihn ein Kommunikationsmittel.

Ihre Odyssee durch die Sozialeinrichtungen hat die zwei nach Sibirien gebracht. Im Fachjargon heißt jener Verschub gewalttätiger Jugendlicher zur Besserung ins Ausland „Erlebnispädagogik“. Die Teilnahme ist freiwillig, die Kosten betragen gut 55.000 Euro. Das ist etwa so teuer wie ein Platz im Jugendgefängnis, aber billiger als ein Heim, die Psychiatrie, reihenweise zu Schrott gefahrene Autos oder die Folgen von Überfällen.

Mitten im Nichts

55.000 € sind aber auch 130 Jahreslöhne in Sedelnikowo. Das ist das, was die Jungs, die auf Russisch fluchen wie Kesselflicker, „Arsch der Welt“ nennen. Von Frankfurt über Moskau sind's sechs Stunden Flug nach Omsk. Von da fährt ein klappriger Bus, in dem fellbemützte Sibirier sitzen, durch Birkenwälder sieben Stunden gen Norden.

Wo der Sumpf beginnt und die Straße endet, liegt, am Fluss Ui, das Nest Sedelnikowo. Im Winter, der sieben Monate dauert, hat's minus 50 Grad. Im heißen Sommer ist alles voller Mücken. Es gibt keine Handys, dafür aber drei TV-Programme auf Russisch, das Klohäuschen im Hof, und statt Zentralheizung Birkenstämme und Äxte.

„Kein Bock, Arschloch!“

Betreuer Silvio lebt mit Marc in einer Hütte. Den Zaun haben sie blau gestrichen. Drei Monate brauchten sie, um die Bauernkate wohnlich zu gestalten. Täglich tragen Marc und Silvio Machtkämpfe aus. Wer schaufelt den Weg zum Klo frei? Wer hackt Holz? Machen wir Mathe? Und immer Marcs Antwort: „Kein Bock, Arschloch.“

„Ich würde Sibirien nicht mehr machen“, sagt Silvio. „Du schießt dich ins Abseits.“ Der 28-Jährige aus Görlitz war Installateur, bevor er Erzieher wurde und sich für die Taiga entschied. „Wenn die Leute ,Erlebnispädagogik‘ hören, denken sie an Segeltörns in der Karibik. Es ist aber ein Knochenjob.“ Silvio muss Vater, Mutter, Freund und Pädagoge für jemand sein, der aus dem dunklen Reich der Jugendpsychiatrie kommt. Himmel und Hölle sind eng beieinander. Da freuen sich beide über ihre renovierte Hütte und stehen sich fassungslos gegenüber, wenn Marc die Katze stranguliert und ans Tor hängt – um wenige Monate später drei neue Kätzchen zu liebkosen.

Die meisten Einheimischen stehen den Deutschen offen gegenüber. Die deutschen Kinder halten sich mit Untaten zurück. Nur einmal stahl ein „Klient“ den Dienst-Wolga des Landrats. Die Deutschen haben hier Respekt vor der Polizei. Der Besuch eines nahen Straflagers, wo Altersgenossen hinter Stacheldraht leben, lässt böse Pläne schmelzen. „Ich klau nix. Hier hat ja keiner was“, sagt Marc. Dafür gibt's überall Schnaps. Die Sibirier machen Selbstgebrannten, der auch mal 65% hat, und bieten den Deutschen den halben Liter für umgerechnet 90 Cent an. Die trinken aber alkoholfreies Bier – meistens, jedenfalls.

In der Taiga lernt man Demut

„Klar wundere ich mich, dass die ihre Kinder für viel Geld zu uns schicken“, so Dorflehrer Wladimir Sedelnikow. Im Dorf, in dem es kaum Jobs gibt, lebten drei von vier Kindern in Armut, würden aber aufgefangen. Fußball, Tanz, Zeltlager: Es gebe 56 Freizeitgruppen.

Vielleicht, mutmaßt der Lehrer, fänden die deutschen Kinder in Sibirien eine Eigenschaft, die ihnen daheim abhanden gekommen sei: „Wenn man in der Taiga etwas lernen kann, dann ist das Demut.“

HINTERGRUND

In Deutschland, wo die steigende Jugendgewalt Diskussionen schürt, sorgt derzeit für Aufsehen, dass das Jugendamt des Landkreises Gießen (Hessen) einen gewalttätigen 16-Jährigen neun Monate zur Besserung in ein sibirisches Dorf geschickt hat. Er lebt samt Betreuer unter einfachsten Bedingungen in einem „Reiz- und Konsum-armen Umfeld“, muss sich weitgehend selbst versorgen und soll so zu einer Normalität zurückfinden.

Er ist kein Einzelfall: Die Sozial- und Strafgesetzgebung der deutschen Länder sieht solche Verbringungen in relativ isolierte Orte ins Ausland zur Besserung als „erlebnispädagogische Maßnahme“ ausdrücklich vor. Mit hunderten Jugendlichen (2006 waren es etwa 600) wird so verfahren. 2005 gab es dabei Aufregung, weil ein 17-Jähriger mehrere Wochen in Kirgisistan abgängig war. Vor vier Jahren brachte ein 14-Jähriger in Griechenland seinen Betreuer um.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.01.2008)

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