Roma in Istanbul: „Sie schicken uns einfach auf die Straße“

(c) EPA (Vassil Donev)
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Das größte Roma-Viertel – es ist das älteste in Europa – muss im Zuge eines Sanierungsprojekts weichen.

Istanbul. Der Roma-Kulturverein von Sulukule besteht aus einem großen Schuppen. In einer Ecke wird Tee gebraut, in einer anderen steht ein einsamer Arbeitstisch, der Rest ist ein ganz normales türkisches Teehaus. Die ausschließlich männlichen Besucher spielen Karten oder Domino, von einem Tisch aus sieht man sich ein Pferderennen im Fernseher an. Ein schwarzes Huhn läuft zwischen den Tischen umher.

Das friedliche Bild trügt. Nur wenige Schritte weiter klaffen in vielen Häusern riesige Löcher wie nach einem Krieg. Istanbuls größtes Roma-Viertel soll der Sanierung weichen. Die Verwaltung des Stadtbezirkes Fatih, zu dem Sulukule gehört, setzt die Eigentümer unter Druck. Wenn sie die Häuser nicht aufgeben, bekämen sie keinen Ersatz, wird ihnen gesagt. Die Eigentümer müssen ihren Mietern Strom und Wasser kappen. Bald malen städtische Beamte ein X auf das Haus, egal ob es noch bewohnt ist oder nicht. Dann kommen eines Morgens unangemeldet Bagger unter Polizeischutz und reißen die Wände heraus.

Viele Bewohner glauben, dass es nicht nur ökonomische Gründe sind, weswegen sie weichen sollen. Saliha Bukluyum, ein Mann von 70 Jahren, steht vor seinem zerstörten Haus und sagt bitter: „Wir leben unter der gleichen Fahne, wir geben unsere Kinder zu den Soldaten, wir tun alles, was man von uns verlangt, aber sie schicken uns einfach auf die Straße.“

Die 3500 Roma, die etwa zwei Drittel der Einwohner von Sulukule ausmachen, stehen mit ihrem Schicksal nicht alleine da. Im Bezirk Yakuplu sollen Sozialwohnungen abgerissen werden, in denen heute 1500 Roma leben. Die meisten dieser Roma wurden erst vor elf Jahren aus einem anderen Viertel nach Yakuplu umgesiedelt. Die Zeitung Milliyet hat ein Papier der Stadtverwaltung über die Umsiedlung veröffentlicht, in dem zu lesen ist, dass in dem Viertel ohnehin nur „braune Mitbürger“ wohnen.

Kulturhauptstadt 2010

Für die Stadtverwaltung von Fatih ist der Abriss von Sulukule indessen nur Teil eines größeren Sanierungsprojektes. Die Altstadt von Istanbul soll an verschiedenen Stellen auf das Jahr 2010 vorbereitet werden. Dann trägt Istanbul zusammen mit Essen und Pecs für ein Jahr den Titel Kulturhauptstadt Europas. Das Geld für diese Sanierungen kommt zu einem großen Teil aus Brüssel. Sulukule soll im osmanischen Stil wieder aufgebaut werden. Doch Geschichte besteht nicht nur aus Bauten. Die Geschichte der Roma in Sulukule reicht zurück bis ins Jahr 1054. Damit ist Sulukule das älteste Roma-Viertel Europas. Roma aus Sulukule musizierten und tanzten vor byzantinischen Kaisern, fränkischen Rittern und osmanischen Sultanen. Sie waren Bärenführer, Akrobaten, Gaukler, Musiker und Pferdehändler.

Noch immer haben sie mit Pferden zu tun. Doch Pferdewagen sieht man auch in Istanbul nur noch selten. Auch ein anderer klassischer Berufsstand der Roma liegt darnieder: Nach Auskunft des Kulturvereins ist Musiker noch immer der am meisten verbreitete Beruf in Sulukule. Doch es gibt kaum noch Auftrittsmöglichkeiten, seit die Stadtverwaltung vor einigen Jahren eine Reihe von Cafés geschlossen hat.

Nicht so recht passt ein solches Viertel neben das wegen seiner Strenggläubigkeit in ganz Istanbul bekannte Fatih. Kein Freund von Sulukule ist auch der gemäßigt islamische türkische Premier Tayyip Erdogan. Am 20. März diesen Jahres griff Erdogan die Kritiker der Sanierung öffentlich an. Wer Sulukule kenne, würde den Sanierern gratulieren, weil sie das Viertel aus einem „monströsen Zustand“ retten und in einen „modernen Zustand, aber mit historischen Gassen, historischen Straßen“ brächten.

Die Musik ist ihr Leben

Sulukule bekommt Unterstützung aus Europa und selbst aus den USA. Indessen schlagen sich die Bewohner mehr schlecht als recht durch. Auf Hochzeiten und in wenigen Lokalen in anderen Vierteln machen die Roma noch Musik. Die Musik ist ihr Leben. In Sulukule lernt man ein Instrument, gleich nachdem man zu laufen gelernt hat. Die Melodien sind traurig und doch zum Tanzen. „Die Musiker spielen, die Mädchen tanzen, die Leute lachen, haben ihr Vergnügen, mein liebes Sulukule, mein geliebtes Sulukule“, heißt es in einem Lied.

AUF EINEN BLICK. Sulukule

Die Geschichte der Roma in Sulukule reicht zurück bis ins Jahr 1054. Damit ist Sulukule das älteste Roma-Viertel Europas.

Die 3500 Roma, die etwa zwei Drittel der Einwohner von Sulukule ausmachen, stehen mit ihrem Schicksal in Istanbul nicht alleine da. Im Bezirk Yakuplu sollen Sozialwohnungen abgerissen werden, in denen heute 1500 Roma leben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.04.2008)

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