Israelis in Berlin: Das süße Leben an einem bitteren Ort

(c) Aviv Netter
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Noch vor wenigen Jahren war es in Israel verpönt, nach Deutschland zu ziehen. Heute träumt eine ganze Generation junger Juden davon, als hippe Diaspora in Berlin zu leben. Was zieht sie so magisch in diese Stadt, wo der Massenmord an ihrem Volk organisiert wurde? „Die Presse am Sonntag“ hat einigen von ihnen zugehört.

Als Roey in Berlin ankam, freute sich seine Lunge mit ihm: „Es war, als könnte ich endlich frei atmen.“ Auch Jael war kaum hier und schon hin und weg: „Diese Stadt umarmt dich. Man fühlt sich sofort wohl.“ Alles erscheint ihr leichter, geruhsamer, weniger hektisch und angespannt als zu Hause: „Hier geht es nicht darum, nur zu überleben. Es geht um das Leben, wie es sein sollte.“

Roey und Jael sind weder traumatisierte Flüchtlinge noch feierfrohe Easyjet-Touristen. Sie haben ihre Heimat Israel verlassen, um eine Zeit lang, vielleicht auch für immer im Ausland zu leben. Unter hunderten Optionen haben sie Europa gewählt, Deutschland, Berlin. Ausgerechnet Berlin! Die Stadt, von der das Grauen seinen Anfang nahm. Wo der millionenfache Massenmord an ihrem Volk, den ihnen Geschichtslehrer ein ganzes Schuljahr lang eingebläut haben, beschlossen und organisiert wurde. Wo dunkle Schatten einer immer noch nahen Vergangenheit an jeder Ecke lauern. Ausgerechnet hier wollen sie ein neues Leben beginnen. Wieso?

Nirit Bialer schlägt keinen hohen Ton an, wenn sie eine Antwort sucht: „Es geht nicht um die große Versöhnung, um keine neue heile Welt.“ Die gute Seele der Community kam 2006 in die Stadt und gründete einen kleinen Stammtisch, wo sich die wenigen Zugezogenen austauschen konnten. Heute übernimmt die Facebook-Seite „Israelis in Berlin“ die Funktion der Kontaktbörse – mit über 10.000 Mitgliedern. Was hat sich so rasant geändert?

So wie alle? Vor allem Deutschland und Berlin selbst: Mit der Fußball-WM 2006 öffnete sich das Land, zeigte sich als großzügiger und entspannter Gastgeber. Auf einmal sprachen die Kellner Englisch, und die internationale Jugend erkor sich einen neuen „place to be“: Berlin, die Stadt, in der man auch mit fast leeren Taschen anständig leben kann und die damit Kreative, Studenten und Lebenskünstler magisch anzieht. „Es ist hier so rau, frisch, multikulturell, noch nicht festgelegt – wie New York in den Neunzigern“, schwärmt Roey Heifetz, der Künstler. Da nun alle kommen, meint Nirit, kommen eben auch junge Israelis. Aber ist es wirklich so einfach?

Ilan Weiß gehört zu einer anderen Generation. Der Versicherungsmakler kam als Student in den 1970er-Jahren nach Berlin. Damals war es in Israel verpönt, in das Land der Feinde zu ziehen. Ein echtes Tabu, auch viel später noch. Schon die neue Selbstverständlichkeit des Wir-machen-das-was-alle-Tun ist also ein Phänomen, das es zu erklären gilt. Vielleicht so: „Ein Tabu zu brechen ist einfach attraktiv“, weiß die Journalistin Tal Alon, die sich mit ihrem Magazin „Spitz“ gezielt an Neuberliner aus Israel wendet. Dazu die Neugier, wie diese berüchtigten Deutschen denn heutzutage wirklich sind. Doch provozieren will die dritte Generation nach dem Holocaust nicht: „Oft unbewusst haben viele gewartet, bis ihre Großeltern gestorben sind“, vermutet Tal. Auch Nirit, deren Vorfahren den Holocaust in Polen überlebt haben, sinniert: „Ich wüsste nicht, wie sie darauf reagiert hätten, dass ich nach Deutschland ziehe.“ Wenn also die Israelis, die ihrem kleinen, isolierten „Ghetto“-Staat entfliehen, Rebellen sind, so doch nur sanfte.

Wie viele es für länger in den Sehnsuchtsort Berlin zieht, lässt sich nur schätzen: zwischen 10.000 und 20.000. Denn viele haben einen deutschen Pass und werden damit nicht erfasst. Doch selbst mit der unteren Grenze ist die Zahl der Zuzügler für das kleine Land Israel im Vergleich zu weit bevölkerungsreicheren OECD-Ländern wie den USA, Frankreich oder Italien auffallend hoch. Etwa 40.000 Juden leben heute in Berlin, zählt man die Alteingesessenen und Zugezogenen aus dem Rest der Welt hinzu. Am wenigsten Berührungspunkte haben die Israelis zur religiösen Gemeinde (siehe unten). Soziologisch sind sie eine homogene Gruppe: Fast alle bezeichnen sich als Atheisten, pfeifen auf Traditionen und stehen politisch „weit links“ – was in Israel vor allem bedeutet: Sie wollen den Palästinensern die Hand reichen und leiden darunter, dass ihre Regierung den Friedensprozess blockiert.

Noch etwas eint die Exil-Israelis: Sie kommen fast alle aus Tel Aviv. Auch die schwer greifbare Ähnlichkeit der beiden Städte erklärt, warum sie sich in Berlin so wohlfühlen. Auf den ersten Blick haben die Metropolen wenig gemein: Das strahlend helle Tel Aviv liegt am Meer, ist im Sommer glühend heiß, überbevölkert, von Halbwüsten umgeben. Das größere Berlin ist im Winter eisig-düster und liegt großzügig hingebreitet auf dem saftig grünen Land.

Partnerstädte. Parallelen finden sich dennoch: Beide Städte sind ganz anders als der Rest des Landes – offener, liberaler, kosmopolitisch. Wie ein Magnet ziehen sie Künstler und freie Geister an, aber auch technisch-kreative Köpfe – beide Städte sind Start-up-Hochburgen. „Ich könnte in Jerusalem nicht leben, aber auch nicht in München“, bekennt Tal. Nur ist das Leben im „Hinterhof Deutschlands“ weiterhin billig, während in Tel Aviv die Preise in den Himmel schießen wie die Wolkenkratzer.
„Eine blitzsaubere Stadt für Reiche“, klagt Roey, „und wir werden in die Peripherie abgedrängt – in langweilige, konservative Schlafstädte.“ Die Jugendproteste vor zwei Jahren, an denen er maßgeblich mitwirkte, richteten sich gegen bröckelnde Chancen seiner Generation. Dass sie wenig bewirkt haben, war für viele der Auslöser fortzuziehen. So kommen ökonomische Motive dazu.
Anders als etwa viele spanische Jungakademiker finden Israelis mit Hochschulabschluss zwar Arbeit, aber meist nur schlecht bezahlte Jobs ohne soziale Sicherheit.
In Berlin hingegen bekommen selbst Maler und Musiker noch Geld von der Künstlersozialkasse. „Wie im Schlaraffenland“, lobt Pionier Ilan Weiss. Und das in aller Freiheit: Roey Heifetz stellt seine großformatigen Zeichnungen in einer Kirche aus („In einer Synagoge wäre das undenkbar“), und Aviv Netter zelebriert seine stadtbekannte Schwulenparty „Meschugge“ als Tanz um das Goldene Kalb, das der DJ als ironisches Maskottchen gewählt hat. Deutsche und Juden trinken, lachen und lieben sich dort. Die Vergangenheit rückt in weite Ferne.
„Das ist eben eine Spaßgeneration“, knurrt Weiss freundlich, „sie würden sogar in einem SS-Bunker tanzen.“

Zwischen allen Stühlen. Oberflächlich, gar geschichtsvergessen? „Niemandem ist die Vergangenheit egal“, wendet Nirit ein. „Sobald wir hier ankommen, holt sie uns ein.“ Wenn sie zur Gedenkfeier an die „Reichskristallnacht“ in die Synagoge geht, „dann macht das etwas mit mir.“ Überhaupt hat sie, auch ohne Religion, ihr „Judentum hier entdeckt“ – schon deshalb, weil sie, anders als in London oder Paris, ständig darauf angesprochen wird. Und ja, „Antisemitismus gibt es hier noch“, auch wenn sie in Österreich „viel krassere Erfahrungen gemacht“ hat. Häufiger als mit Deutschen gibt es Ärger mit Türken und Arabern. Die Erfahrungen sind ambivalent. Tal wohnt mit ihrem Mann, einem Maler, in Kreuzberg. Ihre beiden Söhne gehen in eine Schule, in der mehr als die Hälfte der Kinder aus der Türkei oder arabischen Ländern stammen. Probleme gab es noch nie. Roey hingegen hat böse Attacken erlebt. Und doch hat er hier auch das erste Mal palästinensische Freunde gewonnen: „In Israel war das nicht möglich, ein Tabu.“ Auf Facebook sprechen ihm derweil zu Hause gebliebene Freunde das Recht ab, mit ihnen über Politik zu debattieren, weil er nicht mehr mit ihnen vor Ort kämpft und leidet. So sitzen die friedensbewegten Israelis in Berlin zwischen allen Stühlen. Roey fühlt sich in Verantwortungen gedrängt: für seine Regierung, für seine „Flucht“. Er fühlt nun mit den Deutschen, die sich bei seinesgleichen ständig entschuldigen wollen und von der „Idee der Schuld“ besessen scheinen. Auch so kommt man sich näher.

Werden diese Israelis in Berlin bleiben? Keiner sieht sich als Migrant, alle lassen die Frage offen. Sie gehören eben zu einer „Generation Maybe“, die sich nicht entscheiden will, immer Optionen braucht. So haben all diese Berlin-Siedler, woher sie auch kommen, etwas von der Sagenfigur des „ewigen Juden“, der ohne Ziel über die Erde wandert – eine hippe Diaspora. Und doch werden viele Wurzeln schlagen, wenn sie erkennen, dass die Stadt ihrer Träume sie nicht mehr loslässt.

Geschichte

Davor, danach

In den 1920er-Jahren erreichte die jüdische Bevölkerung Berlins mit 173.000 ihren höchsten Stand (ein knappes Drittel aller Juden im Deutschen Reich). Schon seit dem Kaiserreich war sie stark assimiliert. Die Synagoge in der Oranienburger Straße mit der goldenen Kuppel galt als größte und schönste Europas. Für interne Spannungen in der Gemeinde sorgte – ähnlich wie heute – der Zuzug armer „Ostjuden“.
Nach 1945 lebten nur noch 5000 Juden in Berlin. Alle anderen hatten die Nazis vertrieben, deportiert, ermordet. Überleben konnte nur, wer sich jahrelang im Untergrund versteckt hielt oder durch eine „Mischehe“ mit einem „Arier“ von der Verfolgung verschont blieb. Erst nach dem Fall der Mauer wuchs die religiöse Gemeinde wieder an.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.06.2014)

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