Auf der "Bestie" in ein neues Leben

Auf dem Dach eines Güterzugs reisen Migranten Richtung USA.
Auf dem Dach eines Güterzugs reisen Migranten Richtung USA. Reuters
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Der Honduraner Nicolás gehört zu den zehntausenden minderjährigen Migranten, die aus Zentralamerika in die USA drängen. Viele Kinder werden auf ihrem Weg Opfer von Kidnappern, Räubern und Menschenhändlern.

Mehrmals täglich sind im Heim Casa del Migrante in Saltillo die Geräusche der „Bestie“ zu hören: Das Quietschen, Rumpeln, Dröhnen des Güterzuges, der von der guatemaltekischen Grenze kommend Saltillo durchquert und die Städte Reynosa und Piedras Negras an der Grenze zu Texas ansteuert. Seinen Namen verdankt der Zug den furchteinflößend großen und schweren Lokomotiven, der unendlichen Abfolge von Güterwagen, seinen durch die Nacht gellenden Pfiffen, vor allem aber dem Elend, das er mit sich führt, und den Gewalttaten, die sich auf seiner tagelangen Reise ereignen. „La Bestia“ ist das bevorzugte Transportmittel für Migranten aus Zentralamerika auf ihrem Weg in die USA.

Der 16-jährige Nicolás ist vor einem Monat mit zwei gleichaltrigen Freunden aus San Pedro Sula in Honduras aufgebrochen, der Stadt mit der höchsten Mordrate der Welt. Ihren Eltern sagten sie nichts. Die zweihundert Dollar, die die Jugendlichen zusammengespart hatten, reichten, um im Bus Guatemala zu durchqueren und Zöllner und Polizisten zu bestechen. „Weil wir minderjährig sind, hätten sie uns sonst zurückgeschickt“, sagt Nicolás. In der Stadt Palenque im mexikanischen Bundesstaat Chiapas bestiegen sie die „Bestie“. „Wir rannten dem fahrenden Zug entlang, um den Wächtern im Bahnhof zu entgehen. Wir klammerten uns an einer der seitlichen Leitern fest und zogen uns hoch. Am Tag zuvor war ein Junge aus Nicaragua unter den Zug geraten.“

Nicolás und seine beiden Freunde gehören zu einer Migrationswelle, die laut US-Präsident Barack Obama eine „humanitäre Notsituation“ heraufbeschworen hat. Zur Überraschung von zentralamerikanischen, mexikanischen und amerikanischen Behörden ist die Zahl minderjähriger, unbegleiteter Migranten jüngst geradezu explodiert. Seit Oktober 2013 hat die US-Grenzpolizei fast 50.000 aufgegriffen, bis Jahresende könnten es mehr als 100.000 sein. Im Vergleich zum Vorjahr hat sich ihre Anzahl verdoppelt, während die Grenzwächter vor 2010 jeweils weniger als 10.000 minderjährige Migranten festgenommen hatten. Stammten sie damals mehrheitlich aus Mexiko, überwiegen heute jene aus Honduras, El Salvador und Guatemala. Allein die Zahl der Honduraner ist seit 2009 um 1200 Prozent gestiegen. Die meisten dürften statistisch gar nicht erfasst werden, sei es, weil ihnen die heimliche Einreise in die USA gelingt, sei es, weil sie bereits die mexikanisch»e Polizei aufgreift.

Die Worte des US-Präsidenten sind deshalb stark untertrieben. Was sich gegenwärtig zwischen Zentralamerika und den USA abspielt, ist die schwerste Migrationskrise seit Jahrzehnten, eine humanitäre Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes. Laut der Organisation Ärzte ohne Grenzen werden 60 Prozent der zentralamerikanischen Migranten auf ihrem Weg durch Mexiko zu Opfern von Kidnappern, Räubern, Menschenhändlern und gewalttätigen Polizisten. Unbegleitete Kinder und Jugendliche sind besonders gefährdet.

Polizei foltert Migranten.
Der für die Casa del Migrante in Saltillo tätige Anwalt, Javier Martínez, sagt, es gebe eine städtische Sondereinheit der Polizei, die sich darauf spezialisiert habe, Migranten zu foltern und ihnen das Geständnis abzupressen, Diebe oder Drogendealer zu sein. Das verbessere die Statistik angeblich überführter Verbrecher. Von den 40 Klagen, die Martínez vergangenes Jahr bei der Staatsanwaltschaft und der nationalen Menschenrechtskommission eingereicht hat, sei keine einzige verfolgt worden. Dafür hätten Unbekannte einmal fünfzehn tote Hunde vor dem Eingang des Heimes zurückgelassen.

Nicolás will in die USA, weil er nicht glaubt, in Honduras jemals eine menschenwürdige Arbeit zu finden – auch wenn er im Unterschied zu den meisten Gleichaltrigen aus den Elendsvierteln die Mittelschule beendet hat. Er habe es nicht mehr ausgehalten, täglich von Mitgliedern krimineller Jugendbanden, den sogenannten Maras, gedemütigt zu werden. Er habe es satt gehabt, dass ihn Polizisten aufgrund des bloßen Verdachts festnahmen, ebenfalls zu einer Mara zu gehören. Er habe mitansehen müssen, wie Mareros in einer Bar seinen älteren Bruder erstachen.

„Auch auf der Bestie waren mexikanische, guatemaltekische und honduranische Mareros unser Albtraum. Wir saßen in Gruppen auf dem Dach des Zuges und sahen, wie sie sich näherten, mit Tätowierungen im ganzen Gesicht, auf den Armen und der Brust. Sie forderten Geld, sie vergewaltigten Mädchen, sie drohten, uns zu töten.“ Einmal habe ein Marero nachts einen Migranten vom Dach des fahrenden Zuges gestoßen, ein andermal habe sich eine Gruppe von Auswanderern zusammengetan, um einen der Kriminellen loszuwerden. Seinen Schrei, als er in die Dunkelheit verschwand, habe der Lärm des Zuges verschluckt. „Das oberste Gebot auf der Bestie lautet: Es dürfen nie alle schlafen. Jemand von der Gruppe muss immer wach sein.“

In Saltillo sprang Nicolás ab. An seiner Haut klebte Ruß, die Gelsenstiche schmerzten, er hatte sich zwei Wochen nicht mehr gewaschen und wollte seinen Eltern sagen, dass er noch lebte. Seine beiden Freunde waren schon bei einem früheren Halt abgestiegen. Als der Zug wieder anfuhr, hatten sie es verpasst, rechtzeitig wieder aufzuspringen.

Schlepper locken mit Gerüchten.
Laut der mexikanischen Migrationsexpertin Miriam González sind Armut und Gewalt die Hauptgründe für die Migration aus Zentralamerika in den Norden. Die unglaubliche Zunahme auswandernder Jugendlicher seit Oktober 2013 habe jedoch ein Gerücht bewirkt, das Schlepper in den zentralamerikanischen Ländern verbreiten: Die US-Regierung erteile minderjährigen Migranten eine Aufenthaltsbewilligung. Beflügelt wurde es wahrscheinlich durch die Diskussion um die Migrationsreform und den sogenannten „Dream Act“, der unter bestimmten Bedingungen illegal eingewanderten High-School-Absolventen zugutekommen soll. Mitte Juni ist der amerikanische Vizepräsident Joe Biden nach Guatemala gereist, um zu betonen, das Gerücht sei falsch.

Anders als mexikanische Migranten dürfen die US-Behörden jedoch Einwanderer aus Zentralamerika nicht einfach abschieben, schon gar nicht, wenn sie minderjährig sind. Vielmehr haben sie Anspruch auf ein juristisches Verfahren, das zwar meist mit einer Abweisung endet, aber durchschnittlich 500 Tage dauert. Weil die Eltern oder sonstige Angehörige vieler minderjähriger Migranten bereits in den USA leben, bleibt den Behörden oft nichts anderes übrig, als die Kinder und Jugendlichen vorläufig ins Land zu lassen. Offizielle Angaben über das Schicksal der an der Grenze aufgegriffenen Minderjährigen aus Zentralamerika gibt es wenige, doch werden laut einem Bericht des Kongresses 90 Prozent mit ihren Familien zusammengeführt. Juristisch mag das Gerücht, wonach jeder Minderjährige bleiben darf, falsch sein, faktisch jedoch trifft es für viele zu. Indessen versucht die US-Regierung den Ansturm zu bewältigen, indem sie neue Heime eröffnet und stillgelegte Militärbasen zu Auffanglagern umfunktioniert.

Allein durch Mexiko. In der Casa del Migrante in Saltillo herrscht eine Atmosphäre unterdrückter Spannung. Die Auswanderer sitzen im Innenhof zusammen, Domino spielend und leise miteinander sprechend. Wann ist ein günstiger Moment, um wieder die Bestie zu besteigen?

Die 17-jährige Guatemaltekin Pilar wartet darauf, dass sie ein Schlepper kontaktiert. Ihre Eltern leben seit zehn Jahren illegal in den USA und haben dem Menschenschmuggler 6000 Dollar bezahlt, um ihre Tochter wiederzusehen. Bisher lebte Pilar bei ihrer Großmutter, die vor zwei Wochen gestorben ist. Den Weg von der guatemaltekischen Grenze nach Saltillo musste sie allein zurücklegen, weil sich ihr bezahlter Begleiter plötzlich abgesetzt hatte. Nun soll sie ein anderer Schlepper über die Grenze bringen. In ihrem rosafarbenen Miss-Kitty-Shirt sieht Pilar aus wie vierzehn. Als sie von ihrer Reise auf der Bestie spricht, erwähnt sie beiläufig den sexuellen Übergriff eines Mareros. Mehr will sie nicht erzählen. Im Heim gibt es Englisch- und Bastelkurse, und einmal in der Woche erhalten die Migranten Ratschläge, wie man einen tagelangen Marsch durch die Wüste überlebt, wie viel Wasser man mitnehmen soll und wie man mithilfe einer Karte und eines Kompasses seinen Standort bestimmt.

Noch ein Versuch. Nicolás sagt: „Das Leben zerstört einem die Träume.“ Dennoch wolle er morgen versuchen, die Grenze zu überqueren. Verglichen mit dem, was er in Honduras erlebt habe, sei die amerikanische Border Patrol bestimmt harmlos. Im Morgengrauen steht er gemeinsam mit fünf anderen Migranten auf einem brach liegenden Feld neben den Gleisen, es ist kühl und regnerisch, hinter der Gruppe eine stillgelegte Autowerkstatt, ein paar Baracken, eine Imbissbude mit der Aufschrift „El pollo feliz“ – das glückliche Huhn. Dann hört man in der Ferne das Rumpeln der „Bestie“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.08.2014)

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