Besuch in der Hölle von Beslan

RUSSIA BESLAN COMMEMORATION
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Anfang September 2004 kamen bei einer Geiselnahme in einer Schule der nordossetischen Stadt Beslan 334 Menschen ums Leben. Ein Lokalaugenschein zum zehnten Jahrestag.

„Wie könnte ich vergessen, was hier passiert ist. Diese dreitägige Hölle ist ständig in meinem Kopf“, sagt Natalja Satzewa. Die 39-Jährige zeigt auf eine große Narbe, die quer über ihre Stirn verläuft. Seit zehn Jahren lebt sie mit der Verletzung, die sie bei der Geiselnahme in der Schule in Beslan erlitten hat. Ein Splitter eines Geschosses steckt ihr heute noch im Kopf. Seit damals ist sie invalid. Kann nicht mehr gehen, stehen oder ihren linken Arm bewegen.

An jenem 1. September 2004 begleitet Natalja ihren Sohn zur Schule. Der erste Tag des neuen Schuljahres wird in ganz Russland mit Musik und Darbietungen festlich begangen. Eltern bringen ihre Kinder am „Tag des Wissens“ zur Schule. Da die Kindergärten in Beslan an dem Tag geschlossen blieben, hat die ausgebildete Krankenschwester auch ihre beiden noch nicht schulpflichtigen Töchter dabei.

Kurz nach neun Uhr morgens dringen bewaffnete Terroristen in das Gelände der Schule Nr. eins der 30.000 Einwohner zählenden Stadt in der Republik Nordossetien-Alanien im Nordkaukasus ein. Mehr als 1100 Personen werden als Geiseln zusammengetrieben. Kleinkinder, Schüler, Eltern und Lehrer. Nach drei Tagen kommt es zur Katastrophe: Russische Spezialtruppen stürmen die Schule, setzen dabei schwere Waffen ein. Drinnen explodieren die Sprengsätze der Terroristen. Brände und stundenlange Feuergefechte sind die Folgen des schlecht geplanten Einsatzes. 334 Todesopfer und mindestens 600 Verletzte fordert der Anschlag.

Trotz ihrer schweren Verletzung hat Natalja Glück: Sie und ihre drei Kinder kommen mit dem Leben davon. Verantwortung für den Anschlag übernahm später der radikalislamische Rebellenführer Schamil Bassajew aus Tschetschenien.

Die Schule Nr. eins liegt mitten im Zentrum der Kleinstadt. Das Straßenbild dominieren niedrige Häuser aus rotem Backstein. Über eine Schotterstraße, entlang einer Bahnlinie, führt der Weg zum Areal. Die Turnhalle, in der die Geiseln drei Tage lang ausharren mussten, ist heute eine Gedenkstätte. Über dem Eingang des roten Backsteingebäudes hängt ein schmales, unauffälliges Schild: „Erinnert euch! Das darf sich nicht wiederholen!“. Drinnen Fotos der Opfer, Kuscheltiere, Zettel mit Gedichten, Ikonen, Süßigkeiten.

Überall sind die Spuren des Terrors zu sehen: Einschusslöcher in den Wänden, daneben hängen zwei verkohlte Sprossenwände und Basketballkörbe. Die Wände sind mit Trauerbotschaften vollgekritzelt. In der Mitte des Raumes befindet sich ein großes orthodoxes Kreuz, rundherum Blumenkränze. Überall stehen halb volle, offene Wasserflaschen.

„Wir litten starken Durst. Zuerst brachten wir unsere Kinder auf die Toilette, gaben ihnen dort zu trinken. Als die Terroristen dies bemerkten, haben sie uns das verboten“, erzählt Natalja. Über das zerstörte Dach der Turnhalle spannt sich heute eine Hülle aus goldfarbenem Metall, das von großen Blumenmustern geziert wird.

So viele offene Fragen.
Erinnerung und Gedenken bieten in Beslan auch Stoff für Konflikte. Widerstand regt sich insbesondere gegen eine Kirche, die seit vier Jahren auf dem Schulgelände errichtet wird. „Eine Mehrheit der betroffenen Familien wollte die Schule so erhalten, wie sie nach dem Anschlag war“, sagt Emilija Bsarowa. Wichtige Beweise würden durch den Kirchenbau zerstört. Widersprüche und offene Fragen zum Sturm auf die Schule könnten nun kaum mehr geklärt werden, beklagt Bsarowa, die bei der Organisation Stimme Beslans arbeitet und ihren damals zehn Jahre alten Sohn Aslambek bei dem Anschlag verloren hat.

„Noch heute fällt es mir schwer, überhaupt an der Schule vorüberzugehen“, sagt sie. Ihre Organisation wirft den Behörden vor, das Leben der Geiseln zu wenig geschützt zu haben. Bewusst hätten sie Fehlinformationen verbreitet und keine Verhandlungen geführt. „Es ging ihnen nicht um die Rettung der Geiseln, sondern um die Vernichtung der Terroristen“, sagt sie. Ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg läuft, ein Urteil wird noch für dieses Jahr erwartet.

Psychische Erkrankungen. Zehn Jahre nach der Tragödie ist das Leben in Beslan in ein Vorher und ein Nachher eingeteilt. Fast alle Bewohner der Kleinstadt kennen jemanden, der in irgendeiner Form davon betroffen ist. Neben Mitgefühl berichten Betroffene allerdings auch von negativen Gefühlen, die ihnen entgegengebracht wurden. „Familien, die Kinder verloren haben, fiel es besonders schwer zu akzeptieren, dass andere den Anschlag überlebt hatten“, erzählt Ljudmila Kagjewa, Koordinatorin des psychosozialen Zentrums in Beslan.

Gerade in den Tagen rund um den 1. September steige die Zahl psychischer Erkrankungen; einige würden Beslan gar vorübergehend verlassen. Andere reisen dagegen extra dafür an, um bei den offiziellen Gedenkfeiern, die während der ersten drei Septembertage stattfinden, näher bei ihren Verwandten zu sein.

Wunden heilen nur langsam.
Die Teilnahme an der Feier ist für viele jedoch schwierig: „Wichtiger wäre mir, dass man sich das ganze Jahr über an uns erinnert. Dass wir leben und es uns noch gibt“, sagt Natalja. Das zynische Vorgehen des russischen Staates lässt zudem die Wunden vieler Hinterbliebener nur langsam heilen. „Als ich vor Gericht fragte, ob mein Sohn vor oder nach seinem Tod verbrannt sei, bekam ich keine Antwort. Sie fragten mich einzig, welchen Unterschied das für mich mache“, erzählt Emilija. Ihr Ziel ist, dass der Staat seine Fehler anerkennt. Dafür kämpft sie um die Erhaltung der Schule.

Zumindest bei den Beslaner Schülern sind ihre Kollegen unvergessen. Fährt der Bus vor der Schule Nr. eins vorbei, neigen alle ihren Kopf, sagt die Psychologin.

Fakten

Am 1. September 2004 stürmen mindestens 32 schwer bewaffnete Terroristen die Schule Nr. eins in der nordossetischen Stadt Beslan. Da erster Schultag ist, befinden sich neben Schülern und Lehrern auch viele Eltern im Gebäude. Die Terroristen bringen 1127 Menschen in ihre Gewalt, sie halten die Geiseln im Turnsaal fest.

Am 3. September kommt es zur blutigen Beendigung der Geiselnahme: Bei den Kämpfen, Schusswechseln und bei mehreren Explosionen kommen insgesamt mindestens 334 Menschen ums Leben.

Die Hintergründe wurden nie ganz aufgeklärt. Offiziell handelte es sich um einen Anschlag tschetschenischer Terroristen rund um den Warlord Schamil Bassajew.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.08.2014)

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