Türkei: Gewalttäter wird zum Talkshow-Star

Weil seine Frau die Scheidung wollte, stach er zu: Dass der Täter freikam und im TV um Sympathie warb, sorgt für Empörung – und zeigt das Problem der häuslichen Gewalt im Land auf.

Istanbul. Sentimentale Musik und eine Moderatorin mit viel Verständnis für den Gast der Liveshow: Bei seinem Auftritt im türkischen Fernsehsender Kanaltürk weinte der 37-jährige Yakup Kara kürzlich bittere Tränen, als er von seinem Schicksal berichtete. Bei der rührseligen Szene konnte man beinahe vergessen, von welchem Schicksal die Rede war. Kara hatte wenige Tage zuvor mit einem Schraubenzieher 43 Mal auf seine Ehefrau eingestochen, weil sie sich scheiden lassen wollte.

Jetzt durfte Kara im fliederfarbenen Hemd seine Gattin im Fernsehen um Verzeihung bitten und sie anflehen, trotz ihrer Verletzungen doch bitte an die vier gemeinsamen Kinder zu denken. Die Moderatorin Songül Karli nannte ihn einen „adretten Mann“.

Der „adrette Mann“ erhielt von anderen Männern in der Liveshow viel Zuspruch, als er von den SMS-Botschaften unbekannten Absenders auf dem Handy seiner Frau erzählte und davon, dass seine Gattin, Hasret Kara, ihm nicht sagen wollte, von wem die Botschaften stammten. Wie er das nur ausgehalten habe, fragte ein Studiogast. „Wir müssen wieder Muslime sein.“ Die Schraubenzieher-Attacke begründete Kara damit, dass er von seiner Frau angegriffen worden sei. Nach Medienberichten war Hasret Kara im Alter von 16 Jahren zur Ehe mit Yakup gezwungen worden.

Jede zweite Frau wird Opfer

Yakup Karas groteske Fernsehkarriere wirft ein Schlaglicht auf die Gründe dafür, warum die Türkei das Problem der Gewalt gegen Frauen nicht in den Griff bekommt. In den ersten acht Monaten des Jahres wurden nach einer Zählung des Internetportals Bianet 184 Frauen von ihren Ehemännern, Familien oder von ihren Lebenspartnern umgebracht. Das sind 62 Todesopfer mehr als im Vorjahreszeitraum; insgesamt starben im vergangenen Jahr 214 Türkinnen infolge von häuslicher Gewalt.

Obwohl die Türkei im Rahmen ihrer EU-Bewerbung ihre Gesetze verschärfte, werden nicht immer weniger, sondern immer mehr Frauen zu Opfern. Justiz, Polizei und Medien wie jetzt Kanaltürk zeigen häufig sehr viel Verständnis für die Täter. Nach Umfragen wird fast jede zweite Frau in der Türkei zumindest einmal in ihrem Leben zum Opfer häuslicher Gewalt – jede zehnte Türkin ist sogar der Meinung, Männer hätten ein Recht dazu, ihrer Frau gegenüber Gewalt anzuwenden.

Klage gegen TV-Sender

Auch Yakup Kara meint das offenbar. Seit etwa einem Jahr will sich seine Frau Hasret scheiden lassen, weil er sie körperlich misshandelt hat. Selbst die Schraubenzieher-Attacke, bei der Hasret Kara unter anderem Stiche in die Lunge erlitt, brachte die türkische Justiz aber nicht dazu, Yakup Kara aus dem Verkehr zu ziehen. Zwei Haftbefehle wurden von Gerichten wieder aufgehoben – wegen eines angeblichen Mangels an Beweisen. Hasret Kara sagte, sie bleibe nur noch in ihrer Wohnung, wenn ihr Mann nicht zu Hause sei. Er arbeitet ganz in der Nähe. Da die Justiz die Frau nicht schützen wollte, taten sich einige Nachbarn zusammen und hielten vor der Wohnung Wache, um Hasret zu schützen.

Inzwischen ist das nicht mehr nötig: Yakup Karas Fernsehauftritt löste eine so starke Welle der Empörung aus, dass die Justiz den Gewalttäter dann doch in Untersuchungshaft steckte. Unterdessen kündigten Frauenverbände rechtliche Schritte gegen den Fernsehsender Kanaltürk an.

Umgang mit Gewalt zu locker

Moderatorin Songül Karli kann die ganze Aufregung nicht verstehen. „Es gibt nichts, für das ich mich zu entschuldigen hätte“, meint sie.

Auch bei anderen Privatsendern sieht man das Thema Gewalt gegen Frauen eher locker. Im Fernsehkanal Show TV trat jetzt ein Mann auf, der seine ersten beiden Frauen getötet hatte und nun eine neue Partnerin sucht. Als der Sohn eines der Opfer während der Livesendung anrief und dem Sender vorwarf, aus Gier nach Einschaltquoten dem Publikum einen Mörder zu präsentieren, zog die Moderatorin Seda Sayan die Notbremse: Sie brach das Telefonat ab.

FAKTEN

Fast jede zweite Frau wird in der Türkei nach Umfragen zumindest einmal in ihrem Leben zum Opfer häuslicher Gewalt, jede zehnte Türkin ist sogar der Meinung, Männer hätten ein Recht dazu, ihrer Frau gegenüber Gewalt anzuwenden. Im Vorjahr starben 214 Frauen infolge von häuslicher Gewalt. In den ersten acht Monaten des laufenden Jahres wurden laut dem Internetportal Bianet bereits 184 Frauen Opfer ihrer gewalttätigen Männer.

Anmerkung der Redaktion Unter Berufung auf unsere Forenregelnwurde die Kommentarfunktion zu diesem Artikel deaktiviert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.09.2014)

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