"Mein Kairo", "mein Moskau" - zwei Korrespondenten erzählen

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Kairo hat turbulente Zeiten hinter sich: Vor fast vier Jahren ist Ägypten mit Massendemonstrationen auf dem Tahrir-Platz Diktator Hosni Mubarak losgeworden. Wenn die Zeiten also derzeit in Kairo irgendetwas sind, dann konfus. Karim El-Gawhary erzählt über seine Stadt.

Alles fürchtet sich vor der Zeit, aber die Zeit fürchtet sich vor den Pyramiden“, lautet ein ägyptisches Sprichwort, das jeden Abend bei der Sound-and-light-Show nach Sonnenuntergang in Kairo bei den Pyramiden zitiert wird. Dieses Gefühl, irgendwie schon ewig da zu sein, empfinden auch die Menschen in Kairo. Ein anderes ist die Empfindung, dass sich die Zeit auch manchmal im Kreis dreht.

Vor fast vier Jahren ist man den einstigen Luftwaffenchef und Diktator Mubarak mit Massendemonstrationen auf dem Tahrir-Platz im Zentrum der Stadt losgeworden. Dreieinhalb Jahre später feiert zumindest ein Teil der Stadt die Wahl des Feldmarschalls und vermeintlich neuen starken Mannes Abdel Fatah al-Sisi. Und doch ist das kein Kreis, sondern eher eine Spirale. Denn das Zähmen der durch die Revolution politisierten, vor allem jüngeren Generation dürfte längst nicht mehr so einfach sein wie zur Zeit Mubaraks. Wenn die Zeiten also derzeit in Kairo irgendetwas sind, dann konfus. Jeder Bewohner von Kairo trägt sein eigenes Zeitgefühl.


Der Barkeeper. Wagdi ist so eine Art Sozialarbeiter, oder vielleicht besser gesagt Psychologe, wenngleich er ganz woanders arbeitet. Er mixt seit 35 Jahren Drinks in der Bar des Windsor-Hotels in der Kairoer Innenstadt. „Die Gäste brauchen jemanden, der ein offenes Ohr für sie hat. Das ist fast wie ein Besuch beim Psychologen.“

„Ein guter Barkeeper zeigt Verständnis für seine Gäste, er hilft ihnen, sich wohlzufühlen, ist ein angenehmer Gesprächspartner, ein Kumpel und ja, ab und zu auch ihr Seelenklempner“, erklärt er, während er adrett, in weißem Hemd und mit klassischer schwarzer Fliege, mit einem Tuch die Gläser trocknet. Wichtig sei, dass man den Gästen ehrlich auf die Fragen, die sie beschäftigen, antworte. „Sie merken das und beginnen, dir zu vertrauen, und kommen immer wieder“, sagt er. Auf Wagdi passt vielleicht das arabische Sprichwort: „Unehrlichkeit dauert eine Stunde, die Wahrheit gilt bis zum Ende der Zeit.“ [...]

Alle reden dieser Tage über Politik. Wagdi versucht, das Thema zu vermeiden, weil er in dem politisch zerrissenen Land niemanden vor den Kopf stoßen will. Er hofft, dass Feldmarschall al-Sisi alles richten wird: „Wir müssen einfach optimistisch sein, dass es morgen besser wird, sonst haben wir alles verloren“, erläutert er seine politische Philosophie. „Und wenn es nicht morgen klappt, dann vielleicht übermorgen“, fügt er hinzu, als zarten Hinweis, dass er sich mit al-Sisi nicht ganz sicher ist.

Somaya ist sich mit al-Sisi dagegen ziemlich sicher. Während sie serviert, schimpft sie lautstark über ihn und seine Militärherrschaft. Es ist nicht so einfach, ihre kleine Garküche im Zentrum der Stadt in Bab El-Look zu finden. Sie liegt in einer der vielen unscheinbaren, engen Gassen, durch die kein Auto kommt. Eine jener Gassen mit unbedeutenden kleinen Läden, in denen man zunächst nach oben sieht, um dem Tropfen der Klimaanlagen auszuweichen. Aber normalerweise würde man gar nicht auf die Idee kommen, hier hineinzugehen. Aber dann würde man ein Juwel der ägyptischen Küche verpassen, und vor allem würde man nie die einzigartige Köchin und Chefin kennenlernen.

Die Köchin. Die 43-Jährige begann ihre Karriere, als sie während des 18-tägigen Aufstands gegen Mubarak für die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz kochte. Dass sie gut ägyptisch kochen kann, hatte sich schnell herumgesprochen. Und so traf man sich am Nachmittag an einer bestimmten Ecke auf dem Platz, um von ihr bekocht zu werden. Um es kurz zu machen. Die Demonstranten bedrängten sie, doch ihr eigenes Restaurant aufzumachen, was sie wenige Monate nach dem Sturz Mubaraks auch tat. „Im Grunde genommen essen heute immer noch die gleichen jungen Tahrir-Aktivisten bei mir“, erzählt Somaya.

Neben der Tür hängt ein Poster mit der Aufschrift: „Die Macht der Revolution ist die Macht des Volkes.“ Mehrere Aufkleber rufen zum Wahlboykott auf. „Spielt nicht in dem Theaterstück mit“, heißt es dort. Und das Gespräch über Politik gehört bis heute dazu. Ob der Muslimbruder Mursi, der Feldmarschall al-Sisi, die neuesten Verhaftungen und Urteile, die sexuellen Übergriffe auf Frauen oder die Korruptionsgeschichten – hier wird alles heiß diskutiert. „Wir haben uns seit dem Aufstand gegen Mubarak am 25.Januar2011 einmal im Kreis gedreht und sind wieder am Anfangspunkt angelangt“, meint Somaya.

Die Visionärin. „Die vergangenen Jahre waren eine Erfahrung, und wir müssen aus unseren Fehlern lernen. Wir müssen an uns selbst und auf der Straße arbeiten und die politische Spaltung des Landes überwinden“, sagt sie. Wenn vielleicht nicht für sie selbst, so doch für ihren Sohn, den sie allein aufzieht, hat sie einen Traum: „Ich wünsche mir ein Ägypten, in dem sich niemand vor einem Polizeioffizier fürchten muss. Ein Ägypten, in dem es keine Armenviertel gibt und jeder sein Auskommen und eine Arbeit hat.“

Da sie noch ziemlich weit von dieser Vorstellung entfernt ist, mischt Somaya sich immer wieder lautstark in die Diskussionen im Gästeraum ein. [...] Sie kennt übrigens so ziemlich alle ihre Gäste beim Namen, kennt ihre Geschichte und ihre Kosenamen. Das ist wohl einer der Gründe, warum man sich, eingeklemmt zwischen Sofa und Tisch, mit einem dampfenden Gericht vor der Nase, in Somayas Garküche so geborgen fühlt.

Und hinten in der Küche steht die Köchin, schimpft, lacht und kommentiert die Tagespolitik. Und irgendwie kommt man nicht umhin zu denken, dass Somaya hier der eigentliche Hauptgang ist.

Steckbrief

Karim El-Gawhary berichtet seit 14Jahren als „Presse“-Korrespondent aus Kairo.

Seit Mai 2004 leitet er das ORF-Büro in Kairo und betreut von dort aus den gesamten arabischen Raum und den Iran. Außer für die „Presse“ schreibt er für weitere deutschsprachige Zeitungen.

2013 wurde El-Gawhary vom Fachmagazin „Der Journalist“ als „Journalist des Jahres“ ausgezeichnet. APA

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.09.2014)

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