Carola Schneider über Moskau

Die Moskauer schaffen es, im erdrückenden Bürokratiedschungel der Stadt ihre Nischen zu finden. Carola Schneider über ihre Stadt, die sie immer wieder verblüfft.

Es ist später Nachmittag, auf den Straßen herrscht das übliche Gedränge während der Stoßzeit. Ich bin in der Region Tschertanowo im südlichen Moskau unterwegs, zu Natascha und Juri, einem älteren Ehepaar, bei dem ich während meines Austauschstudiums vor mehr als 20 Jahren in Moskau gelebt habe.
Wie jedes Mal, wenn ich in dieses Wohnviertel komme, erstaunt es mich, wie sehr es sich seither verändert hat. In der Nähe der U-Bahn-Station wurden neue Wohntürme und Einkaufszentren aus dem Boden gestampft, der Teich, der aus einem unterirdisch verlaufenden Fluss gespeist wird, wurde neu gefasst. Noch immer ist er eine kleine Oase der Ruhe unmittelbar neben der lauten Ausfallstraße, auf der zu dieser Zeit die Autos stadtauswärts im Stau stehen. Mütter mit Kinderwagen spazieren hier, Obdachlose und Trinker sitzen mit ihren Bierdosen in der Hand schweigend auf Holzbänken und starren ins Wasser.
Auf dem Weg zum Wohnblock von Natascha und Juri sticht mir ein Wahlplakat ins Auge. „Wir haben es geschafft, die Krim zurückzuholen, jetzt gelingt es auch, Moskau von den Staus zu befreien“, steht da in großen Lettern gedruckt. Dieser etwas eigenartig anmutende Slogan stammt von einem der Kandidaten für die bevorstehende Wahl des Moskauer Stadtparlaments. Nun haben die umstrittene „Heimholung“ der Krim und die Ukraine-Krise also auch die Moskauer Lokalwahlen erreicht, denke ich, als ich bei Natascha und Juri klingle.
Wir haben uns seit Monaten nicht gesehen. „Wo treibst du dich herum, wir haben schon befürchtet, du bist verschollen“, scherzt Juri und öffnet eine Flasche Wein, während Natascha den Tisch deckt und Salat mit selbst gemachter Mayonnaise anrichtet. Ich erzähle, dass ich oft in der Ukraine war, um über die dortige Krise zu berichten. „Sag, wie war es auf dem Maidan? Hast du dich nicht vor den Faschisten gefürchtet?“, fragt Juri besorgt und hört erstaunt zu, als ich ihm erzähle, dass ich bei den Massenprotesten auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz zwar einige Nationalisten, vor allem aber Familien mit Kindern, Großeltern und Studenten angetroffen habe, normale Bürger, die für ein europäisches, demokratisches Land auf die Straße gingen, das nicht mehr von korrupten Machthabern ausgeraubt wird. „Siehst du“, stupst Natascha ihren Mann an, „es stimmt nicht, was unser Fernsehen dauernd berichtet, du solltest nicht immer schauen.“

Der tiefe Graben. Doch Juri bleibt bei seiner Meinung und meint, der mittlerweile gestürzte ukrainische Präsident Janukowitsch hätte besser daran getan, den Protesten auf dem Maidan sofort kurzen Prozess zu machen, dann hätte es die Krise gar nicht gegeben. „Etwa so, wie Putin bei uns die Proteste gegen ihn niedergeschlagen hat?“, fällt ihm Natascha ins Wort. Nein, das wolle sie nicht, meint sie und kommt auf die Wiedereingliederung der Krim in Russland zu sprechen. Das sei falsch gewesen. Jetzt müsse wohl die russische Bevölkerung aus ihrer Tasche die Milliarden für den wirtschaftlichen Aufbau der Halbinsel bezahlen, seufzt sie. „Ach was“, meint Juri, „die Krim war immer russisch, das ist schon richtig so.“
„Weißt du“, sagt Natascha ein wenig resignierend an mich gewandt, „wir sind uns beim Thema Krim und Ukraine-Krise nicht einig. Und das innerhalb einer Familie.“ Das zeigt nur den tiefen Graben, der sich in diesen Monaten durch die ganze russische Gesellschaft zieht, schießt es mir durch den Kopf. Wobei Juri für sich beanspruchen kann, die Meinung der überwältigenden Mehrheit der Russen zu vertreten. Wir lenken das Gespräch auf ein versöhnlicheres Thema und heben die Gläser. Wie immer in Russland nicht ohne Trinkspruch: „Auf unser Beisammensein.“ Meine Freundin Julia holt mich an der Wohnungstür von Natascha und Juri ab, sie lebt im selben Stockwerk. Wir wollen ein zum Design- und Kunstviertel umgebautes ehemaliges Fabriksareal besuchen, das sich nun neuenglisch Artplay nennt. Als wir das Haus verlassen, bleibt Julia plötzlich stehen und eilt um die Ecke. Dort haben Arbeiter der städtischen Verwaltung soeben einen Baum umgesägt.

Stadtverschönerung auf russisch. Der Stamm mit der ausladenden Krone liegt auf dem Rasen, eine Aufseherin kontrolliert aus einiger Entfernung den Vollzug der Sägeanordnung. Deren schriftliche Fassung hält einer der Arbeiter Julia entgegen, als sie ihn empört fragt, warum im Hof hinter ihrem Wohnhaus schon wieder ein Baum umgesägt werde. Julia schüttelt den Kopf: „Es ist nicht zu fassen.“ Dutzende Jahre würden diese Bäume schon hier stehen und niemanden stören, meint sie. „Und das nennen sie im Rathaus Stadtverschönerung“, schimpft Julia und eilt weiter in den Hinterhof.
Sie winkt mich zu sich. „Hier sind ein paar Quadratmeter naturbelassener Rasen.“ Sie zeigt auf den Boden. Tatsächlich wuchern hier unterschiedliche Gräser, die seit Langem nicht mehr geschnitten wurden. Sie habe den Gartenarbeitern verboten, hier zu mähen, und vorgegeben, sie habe dafür eine Erlaubnis der Verwaltung, sagt Julia augenzwinkernd. Und ich bin wie so oft verblüfft, wie geschickt es die Moskauer immer wieder schaffen, in diesem erdrückenden Bürokratiedschungel der Stadt, der ihre Bewohner oft genug machtlos zurücklässt, eine kleine Nische zu schaffen, die nach eigenem Gutdünken gestaltet wird. ?

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