Flüchtlingswelle: Wie das Mittelmeer zur Todeszone wurde

People fleeing the unrest in Tunisia transfer onto the Italian Navy´s amphibious transport dock MM San Marco, off the southern Italian island of Lampedusa
People fleeing the unrest in Tunisia transfer onto the Italian Navy´s amphibious transport dock MM San Marco, off the southern Italian island of Lampedusa(c) REUTERS (ALESSANDRO BIANCHI)
  • Drucken

Neue Zahlen belegen das ganze Ausmaß der humanitären Katastrophe vor den Toren Europas. Allein heuer ertranken mehr als 2500 Bootsflüchtlinge. Und die Lage könnte sich schon bald weiter zuspitzen.

Wien. Der Terror des Islamischen Staats im Nordirak und Syrien, die Bürgerkriege und „gescheiterte Staaten“ in Afrika: Weltweite Konflikte erzeugen eine gewaltige Flüchtlingswelle, die gegen Europas Peripherie drückt. Während die EU nach Antworten sucht, geht das Sterben der Asylwerber auf der Überfahrt in notdürftigen, meist überfüllten Booten im Mittelmeer weiter. Die EU setze Flüchtlinge auf der Suche nach einem würdigen Leben einem Überlebenstest aus, beklagt Amnesty International.

Hier sieben Fragen zu der humanitären Katastrophe, die sich vor den Toren Europas abspielt.

1. Wie viele Bootsflüchtlinge sind bereits im Mittelmeer ertrunken?

Der Weg nach Europa über das Mittelmeer ist die tödlichste Flüchtlingsroute der Welt. Amnesty International legte gestern Schätzungen vor, wonach heuer bis 15. September bereits mehr als 2500 Menschen im Mittelmeer den Tod fanden. Die Internationale Organisation für Migration spricht von 3072 Toten seit Jahresbeginn. Zum Vergleich: 2013 ertranken rund 600, 2012 rund 500 und 2011 rund 1300 Flüchtlinge.

2. Stimmt es, dass es sich meist um Wirtschaftsflüchtlinge handelt?

Nein. Im Vorjahr kamen 63 Prozent der auf dem Seeweg nach Europa gelangten Bootsflüchtlinge von den Kriegsschauplätzen Syrien und Afghanistan sowie aus dem Bürgerkriegsland Somalia und aus Eritrea, das von einem der repressivsten Regimes der Welt regiert wird.

3. Wie sieht der Ausblick für die Flüchtlingskrise aus?

Düster. Italien erwägt, die Rettungsmission Mare Nostrum mit Ende Oktober auslaufen zu lassen. Seit 18. Oktober 2013 patrouilliert die italienische Marine im Mittelmeer, was neun Millionen Euro pro Monat verschlingt. Binnen elf Monaten wurden dabei 138.866 Menschen aus dem Wasser gezogen. Die Rettung eines Menschenlebens kostete demnach 712 Euro, wie Amnesty International vorrechnet. Ein adäquater Ersatz für Mare Nostrum ist weit und breit nicht in Sicht.

(C) DiePresse

4. Trägt also Italien die Hauptschuld an künftigen Flüchtlingsdramen?

Nein. Italien stellte die Mission Mare Nostrum im Alleingang auf die Beine – und zwar als Reaktion auf die Flüchtlingskatastrophe am 3. Oktober 2013, als ein Kutter vor Lampedusa Feuer fing und sank. Rund 300 Menschen starben. Italien fühlt sich von der EU im Stich gelassen. Es protestiert dagegen, wegen seiner Lage dazu genötigt zu werden, die Hauptlast der Flüchtlingswelle nach Europa zu schultern. Im Kern geht es dabei um das Dublin-III-Abkommen. Es legt fest, dass jenes Land für das Asylverfahren zuständig ist, das vom Antragssteller als erstes betreten wird. Wer rettet, trägt zumeist auch die Folgekosten für Verfahren und Unterbringung. Unter anderem die bayerische CSU wirft Rom aber auch vor, Flüchtlinge absichtlich „ungehindert“ über Österreich nach Deutschland weiterreisen zu lassen.

5. Kann nicht die EU-Grenzschutzagentur Frontex einspringen?

Nein, dafür fehlt Geld, Logistik, das Mandat – und damit letztlich auch der politische Wille der EU. Etwa ein Drittel des Frontex-Jahresbudget von 89 Millionen Euro wird für den Schutz der Seegrenzen aufgewandt (in deren Gefolge auch in Seenot geratene Menschen gerettet werden). Durch interne Umschichtungen wurde zwar weitere Mittel für bereits laufende Missionen vor Italiens Küste freigeschaufelt. Auch eine neue Mission, benannt nach dem griechischen Meeresgott Triton, wird auf den Weg gebracht. „Wir können Mare Nostrum nicht ersetzen“, sagt eine Frontex-Sprecherin zur „Presse“. Denn die Agentur operiert mit von den EU-Staaten bereitgestellten Wachbooten in Küstennähe, während die Rettungsmission der italienischen Marine bis in die libysche „Search- and Rescue“-Zone ausgreift.

6. Welche Rolle spielt Libyen in der Flüchtlingskatastrophe?

Eine Schlüsselrolle. Seit dem Sturz von Diktator Muammar al-Gaddafi herrscht Anarchie, Milizen bekämpfen sich gegenseitig. In diesem Machtvakuum ziehen Schlepperbanden ihr Geschäft mit den Flüchtlingen hoch. Wegen des Fehlens einer Staatsgewalt, die diesen Namen auch verdient, kann Libyen weder seine Seegrenzen ausreichend sichern noch in größerem Umfang Rettungsmissionen durchführen. Außerdem animiert die prekäre Sicherheitslage in Libyen Flüchtlinge, weiter nach Europa zu ziehen. Jene, die in Europa ankommen, berichten oft von willkürlichen Festnahmen und Folter.

7. Welche Vorschläge gibt es, um Flüchtlingsdramen zu verhindern?

Italien fordert eine Abkehr von Dublin III, künftig sollen Asylwerber in allen EU-Staaten einen Antrag stellen können. Auf EU-Ebene ist dafür aber ein einstimmiger Beschluss nötig. Und Länder wie Deutschland und Österreich blockieren. Rom verlangt zudem, dass Frontex in Italien angesiedelt wird, was aber Brüssel ablehnt. Die italienische Regierung wünscht sich auch eine Aufteilung der Flüchtlinge. Zuletzt hat sich auch Wien für ein EU-weites Resettlement-Programm ausgesprochen – Flüchtlinge sollten dann nach einem fixen Schlüssel, proportional zur Bevölkerungszahl und unter Rücksichtnahme auf die bereits jetzt vorhandene ungleiche Verteilung, auf die EU-Staaten aufgeteilt werden. Kriegsflüchtlinge sollten künftig direkt in Libyen, Ägypten, Syrien oder wo immer nötig (in den Konsulaten oder anderen EU-Büros) ihren Asylwunsch vorbringen. Dort soll ihnen die gefahrlose Einreise in die EU ermöglicht werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.10.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Migrants are seen crammed onto a rubber dinghy before being saved by Italian Navy rescue at about 100 miles from the southern coast of the Sicilian island of Lampedusa
Weltjournal

Friedhof Mittelmeer: Heuer schon mehr als 3000 Tote

"Migranten sterben, obwohl sie es nicht müssten", sagt der Chef der Internationalen Organisation für Migration.
Europa

(Zu) Wenig Geld für Flüchtlingsaktion

Die Grenzüberwachungsmission der EU im Mittelmeer soll Mare Nostrum entlasten, aber nur ein Drittel kosten. Österreich beteiligt sich personell, Großbritannien gar nicht.
Außenpolitik

Europäische Union hat neue Flüchtlingsstrategie

Der heutige Beschluss der EU-Innenminister sieht ein Quotensystem auf freiwilliger Bais vor - und stärkere Grenzkontrollen.
Europa

Gemeinsame Grenzen, gemeinsamer Grenzschutz

Frontex. Die 2004 gegründete Agentur hilft bei der Überwachung der EU-Außengrenzen mit. Demnächst soll Frontex gemeinsam mit der italienischen Marine im Mittelmeer nach Bootsflüchtlingen Ausschau halten.
Europa

Rom fühlt sich mit Flüchtlingswelle völlig allein gelassen

Italien. Seit Beginn des Jahres sind bereits über 100.000 Boat People an den südlichen Küsten des Landes gestrandet. Die Auffanglager sind überfüllt, doch nördliche EU-Länder verweisen auf die Statistik, wonach die Hauptlast der Asylanträge immer noch bei ihnen liegt.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.