"Illegale": Die verlorenen Kriegsopfer vom Brennerpass

Der Syrer Abdul und vier seiner Kinder neben der Anhaltestelle Plon: „Dachte, Europa, das sei Freiheit.“
Der Syrer Abdul und vier seiner Kinder neben der Anhaltestelle Plon: „Dachte, Europa, das sei Freiheit.“Jürgen Streihammer
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Tausende "Illegale", darunter viele Syrer, werden in Tirol aufgegriffen und nach Italien zurückgeschickt. Das belastet alle. Flüchtlinge, Helfer, Polizisten: "Natürlich geht dir das nahe." Eine Reportage.

Er hört nicht den Lkw-Lärm von der Autobahn um die Ecke, er sieht nicht die Berge, die sich vor und hinter ihm erheben. Abduls ganze Aufmerksamkeit richtet sich auf das Haus vor ihm mit den vergitterten Fenstern im ersten Stock: „This is jail!“, sagt der Syrer. Nein, nein, das sei kein Gefängnis, erklärt ein Polizist dem fünffachen Familienpapa: „We want to help you!“ Abdul steht vor der Anhaltestelle Plon bei Steinach am Brenner. Wie so viele Landsleute vor ihm – vom Universitätsprofessor bis zum Tagelöhner, vom Baby bis zum Greis. Denn hier bringt die Polizei die meisten illegal Eingereisten unter, die sie in Tirol aufgreift. Für ein paar Stunden. Und dann? Zurück nach Italien.

„La nuova cortina di ferro“, Europas neuer Eiserne Vorhang, tauften sie den Brenner in italienischen Medien. Denn in der Grenzregion läuft eine Dauerschleife: Tiroler Beamte steigen in der letzten Haltestelle auf italienischem Boden in einen Reisezug nach Deutschland ein. Dann durchkämmen sie die Waggons nach Passagieren, die sich nicht ausweisen können. Diesmal also der Eurocity 88 nach München. Am Bahnsteig 6 in Innsbruck ist Endstation für die 18 illegal Eingereisten – sieben junge Männer und eine Frau aus Eritrea, ein Iraner mit zwei Kindern und die syrische Familie (Papa Abdul, seine Frau und fünf Kinder, darunter ein Baby.) Der iranische Bub hüpft vor allen anderen mit breitem Grinsen aus dem Zug. Seine erste Handlung auf österreichischem Boden: Er schüttelt und schupft eine Cola-Flasche. Im Hintergrund ragt die Bergisel-Schanze hervor. Die Erwachsenen tragen ernstere Mienen, wirken aber gefasst. Die Schlepper dürften sie auf die Möglichkeit einer Festnahme vorbereitet haben.

„Sag' nichts, oder wir töten dich.“ Abduls Familie hat nun das sechste Land binnen weniger Monate betreten. Der Mechaniker kommt aus dem zerbombten Homs in Syrien. Nach der Reihe starben seine Verwandten im Krieg, erzählt er: „Die Mama, der Papa, ein Bruder“, und dann auch noch eines seiner Kinder. Also flüchtete er – zunächst in ein Dorf in der syrischen Wüste. Doch der Krieg verfolgte sie. Also weiter nach Jordanien. Aus dem Königreich ging es per Flugzeug über das Mittelmeer nach Algerien, von dort mit dem Schlepper über die libysche Grenze. „Dieses Land war schlimm“, sagt der groß gewachsene, breitschultrige Mann mit dem Dreitagebart. „In Libyen hatten wir nur Probleme. Kein Essen, keine Jobs und Gewalt.“ Also stieg er mit seiner Familie in eines der berüchtigten Flüchtlingsboote. 3200 Dollar gab er den Schleppern. 400 Menschen, schätzt Abdul, waren an Bord. Seinen Koffer mit dem Geld und den Papieren, so erzählt er es, warfen die Schlepper ins Meer. Auf seinen wütenden Blick antworteten sie mit einer Drohung: „Sag' jetzt nichts, oder wir töten dich.“ Es folgte ein Schiffbruch im Mittelmeer und die Rettung durch die italienische Marine. Und irgendwann stiegen sie in Rom in den Zug. Reiseziel: München. Die meisten Flüchtlinge aus Syrien wollen nach Deutschland, weil dort Verwandte wohnen, weil es dort große syrische Communities gibt oder weil sie gehört haben, dass es ein reiches Land ist. Abdul behauptet, die Schwester seiner Frau lebe dort.

Nur kein Aufsehen erregen: Die Polizei bringt die Flüchtlinge über den Hinterausgang zum Polizeibus. Einige ziehen Trolleys nach, andere haben ihr ganzes Hab und Gut in einem kleinen Rucksack. Dann geht es zurück in Richtung Italien, über die höchste Balkenbrücke des Kontinents, die Europabrücke und vorbei an einem Schild mit der Aufschrift: „Hier wird der Brenner-Basistunnel gebaut.“ Ein paar Kilometer vor der Grenze taucht an der Autobahn die Anhaltestelle Plon auf.

Alles aussteigen. Die Stimmung kippt. Einen jungen Mann aus Eritrea tragen die Polizisten aus dem Bus. Ist er kollabiert? „Puls ist okay“, sagt ein Rotkreuz-Mann. Wohl nur die Aufregung. Und der nasse Fleck auf seiner Hose? „Seine Landsleute haben ihm Wasser drübergeschüttet. Das hab ich gesehen“, meint eine Polizistin. Sie legen den Mann auf eine Krankentrage am Gang der Anhaltestelle im ersten Stock. Seine Landsleute aus Eritrea kauern sich auf Sesseln und einer Couch zusammen. Abdul zeigt mit aufgerissen Augen auf sie: „Nicht mit denen in ein Zimmer. Zu viele Spannungen!“ Seiner syrischen Frau mit dem schwarzen Kopftuch und dem fünf Monate alten Baby im Arm kullern die Tränen über die Wange. „Die Syrer haben Angst vor denen aus Eritrea“, sagt ein Polizist und teilt die Familien auf die Stockbettzimmer auf. Er macht das sehr umsichtig – auch wenn keine Medien dabei sind, wie Rotkreuz-Helfer bestätigen. Alles Routine, so scheint es. Der Eindruck täuscht. Keine Amtshandlung wegen einer Verwaltungsübertretung (und das ist eine illegale Einreise) fällt ihnen so schwer wie diese.

Abdul tippt nun hektisch SMS in arabischer Sprache. Man fragt sich, wem er schreibt: dem Schlepper, Verwandten in Deutschland oder in Syrien? Plötzlich lässt er sich in seine Lederjacke fallen: „Manchmal denke ich mir: Hätte ich es nur getan.“ Was? „Mich umgebracht.“ Er zeigt auf seine Familie: Mit fünf Kindern monatelang auf der Flucht: Das sei „too much“. Neben ihm im Stockbett windet sich seine fünf Monate alte Tochter. Ein Rotkreuz-Mitarbeiter bringt frische Windeln.

5780 Aufgriffe. Europa, meint Abdul, das sei „doch Freiheit und Sicherheit“. So hat man ihm das erzählt. Er sagt das nicht anklagend, aber bitter enttäuscht. Er wusste nicht, dass sich Grenzen durch diese Kontinente ziehen. Von Dublin-III hat er ziemlich sicher noch nie gehört. Das Abkommen legt fest, dass (mit Ausnahmen) das erste auf der Flucht betretene EU-Land für das Asylverfahren zuständig ist. In Abduls Fall also Italien – „dort, wo wir wie Tiere hausten“. Nein, er will sich nach Deutschland durchschlagen. Deshalb sagt er auch nicht das Wörtchen „Asyl“ in Tirol. Und aus Italien illegal Eingereiste, die keinen Asylantrag stellen, werden eben „zurückgeschoben“, wie sich das nennt. Die Zahlen sind gewaltig: 5780 Illegale wurden heuer in Tirol bis Mitte Oktober festgenommen. Die große Mehrheit stammt dabei aus Syrien und Eritrea. Alleine im September verdoppelte sich die Zahl der Aufgriffe im Jahresvergleich auf 1052.

Die Festgenommenen werden nun in Plon „erkennungssdienstlich behandelt“, wie das im Beamtendeutsch heißt. Sie geben ihre Fingerabdrücke ab sowie Namen und Herkunftsland an. Reisedokumente hat hier niemand.

Das Rote Kreuz und die Polizei sind hier ein eingespieltes Team: „Ich seh' euch öfter wie meine Frau“, scherzt Erwin Hechenblaikner mit den Helfern. Der Polizist macht nicht den Eindruck, als könnte ihn schnell etwas aus der Bahn werfen. Kräftige Statur, Schnauzbart, fester Blick. Doch die Schicksale, die hier ein- und ausgehen, „das geht einem schon nahe, gell“. Auch an absurde Szenen erinnert er sich: „Einmal begannen alle Afrikaner gleichzeitig und scheinbar grundlos zu schreien. Das war ohrenbetäubend.“ Und dann ist da noch die Angst vor Krankheiten. Menschen mit Malaria oder Tuberkulose hatten sie hier schon. Wenn er an einen Tatort gerufen wird, empfindet Hechenblaikner das wörtlich als „Verschnaufpause“. Sie reden hier viel miteinander, um zu verarbeiten – unter sich vermutlich auch darüber, was das alles für einen Sinn macht. Einige Flüchtlinge haben sie hier schon vier bis fünf Mal gesehen. Auch eine Gruppensitzung mit einem Psychologen habe es gegeben: „Mir hilft das aber nicht“, sagt Hechenblaikner.

Polizist sammelt Kleider. Dann lieber dem Ganzen etwas Sinn geben: Als im kalten Oktober 2013 die Flüchtlinge teils in Sandalen durch den ersten Schnee stapften, organisierte er eine Kleidersammlung in seinem Heimatort Gries am Brenner. Andere verarbeiten die Schicksale im Stillen. Rotkreuz-Bezirksstellenleiter Günther Ennemoser erzählt von einer Kollegin, die immer mit dem Hund in den Wald geht und leise vor sich hinweint. „Dann geht's ihr wieder besser, sagt sie.“ Es gebe auch schöne Momente sagt Ennemoser. „Wenn die Flüchtlinge hier für ein paar Stunden Ruhe finden, dann ist schon viel erreicht.“ Manchmal würden sich Kinder an die Beine der Helfer klammern, weil sie noch bleiben wollen. „Man muss nicht Arabisch können, um ein Danke zu verstehen.“

Manchmal verbringen Flüchtlinge auch die Nacht hier. Italiens Polizei nimmt illegal Eingereiste werktags nur bis 18.30 Uhr und am Wochenende nur bis mittags zurück, heißt es. Für Abduls Familie geht es aber noch am selben Tag nach Italien. Doch davor dreht er sich noch einmal um: „Wie ist Österreich so? Was ist der Unterschied zu Deutschland? Wo ist es besser?“In Italien wird seine Reise jedenfalls nicht enden. Die Polizei wird ihm dort einen Zettel in die Hand drücken, mit der Anordnung, sich am nächsten Tag zu melden. Er wird das nicht tun. Und dann fängt wieder alles von vorne an.

AUF DER FLUCHT

5780 illegal Eingereiste wurden allein in diesem Jahr in Tirol aufgegriffen. Im September waren es 1092 und damit fast doppelt so viele wie im Vorjahr (568). Die große Mehrheit stammte aus Syrien (520) und Eritrea (334).

In der Anhaltestelle Plon werden den Flüchtlingen vor der Zurückschiebung nach Italien die Fingerabdrücke abgenommen. Zudem werden sie vom Roten Kreuz versorgt. 35 Betten stehen bereit.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.10.2014)

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