Rumänien: Den Absprung verpasst

(c) Flickr (Brandon Atkinson)
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Nach der rumänischen Revolution 1989 wanderten rund 100.000 Siebenbürger Sachsen nach Deutschland aus. Die wenigen, die blieben, bereuen dies heute zumeist. Denn auch sie haben ihre Heimat verloren.

Er ist ein hartnäckiger Gefährte, dieser Zweifel, der Dorothea Ziegler-Badea begleitet. Jeden Tag, seit 25 Jahren. Am Morgen, wenn sie den Gemüsegarten hinter dem Hof jätet, am Nachmittag, wenn sie im verfallenden Pfarrhaus aufräumt, am Abend, wenn sie den Hund versorgt und den Kater streichelt. Was wohl passiert wäre, fragt sich die resolute Frau mit den kurzen Haaren immer wieder, wenn damals das Hirn über das Herz gesiegt hätte und nicht umgekehrt. Wenn sie nach der Revolution 1989 nicht auf das siebenbürgische Zuhause vertraut hätte, sondern gegangen wäre. Nach Deutschland. Wie so viele andere.

Mehr als 225.000 Siebenbürger Sachsen haben ihre Heimat im rumänischen Karpatenbogen seit den 1970er-Jahren verlassen. Rund die Hälfte „verkaufte“ das sozialistische Regime von Nicolae Ceauşescu als Devisenbringer in die BRD, weitere 115.000 Menschen nutzten nach 1989 den Systemwechsel und die großzügige Unterstützung Deutschlands. Da die deutsche Minderheit im Land auch andere Gruppen umfasste, etwa die Banater Schwaben, gibt es keine offiziellen Zahlen, wie viele Sachsen einst in Rumänien gewohnt haben. Mit weniger als 15.000 Menschen lebt heute aber nur mehr ein Bruchteil von ihnen hier.

Die Auswanderer haben ihre Häuser und ihre Kultur zurückgelassen. Die Bräuche und Traditionen verstauben, sorgfältig in Kisten weggepackt. Einer Geschichte, die im 12. Jahrhundert mit dem Zuzug von deutschsprachigen Siedlern aus dem mittelrheinischen und moselfränkischen Raum begonnen hatte, hat der Kommunismus ein Ende gesetzt. Die Gemeinde Keisd (rumänisch Saschiz) zählt von den einst mehr als 1200 noch 26 Sachsen. Die meisten gingen gleich nach der Revolution. Sogar der örtliche Geistliche schloss sich 1990 dem Tross an.


Schutz vor Tataren und Osmanen. Die Zwillingssäulen des sächsischen Lebens sind in Keisd baulich erhalten geblieben, wenn auch in jämmerlichem Zustand. Der Turm der Wehrkirche krümmt sich auf dem Hauptplatz neben dem Kirchenschiff. Ihm gegenüber erzählt noch ein verblasster Schriftzug auf einem verfallenden Klotz von der „Evangelischen deutschen Volksschule“. Die Wehrburg hatte im Mittelalter und danach als Schutz vor Tataren und Osmanen an diesem Außenposten Europas gedient, die Schule den kulturellen Zusammenhalt mithilfe der deutschen Sprache und mithilfe des siebenbürgischen Dialekts vermittelt.

Heute bewacht der von Mauerrissen durchzogene Turm nur mehr ein bescheidenes Territorium. Viele der bunten Häuser der Sachsen stehen leer, die Farben sind verblasst, Ziegel fehlen. Und in dem Schulgebäude wird seit Jahren nicht mehr gelernt. Sächsische Kinder gibt es keine mehr. Nur noch der Durchreiseverkehr donnert hier auf der Landstraße in Richtung der 100 Kilometer entfernten Kreisstadt Kronstadt (Braşov) vorbei. „Die Straße wird uns den Turm noch endgültig zerstören“, sagt Dorothea verärgert. Sie verwaltet den Besitz der evangelischen Kirchengemeinde in Keisd: Turm, Kirche, zwei Veranstaltungssäle, den verwilderten Garten, der das Pfarrhaus säumt, und ein bisschen Ackerland. Lange will sie das nicht mehr tun. „Sonst gehe zuletzt auch ich noch daran kaputt!“

Dem Auszug der Sachsen nach 1989 hat Dorothea mit Sorge zugeschaut. Sich anzuschließen kam für sie nicht infrage. Derart große Hoffnungen habe sie in den demokratischen Aufbruch Rumäniens gesetzt, erzählt die 51-Jährige. Sie, die in den 1980er-Jahren noch einen Ausreiseantrag in die Bundesrepublik gestellt hatte, worauf ein Berufsverbot als Lehrerin folgte, wollte Siebenbürgen nicht den Rücken kehren, als der Diktator dem Land endlich nicht mehr im Weg stand.

Ihre Eltern und die Schwester sind ausgewandert. Mehrfach hat die Schwester auf Dorothea eingeredet nachzukommen. Ohne Erfolg. „Ich hatte doch mein Häuschen hier und ein Stück Land. Ich habe mich dieser Gegend immer verbunden gefühlt“, sagt die Frau. Und frisch verliebt war sie auch. „Mein Mann und ich dachten, dass in Rumänien ein Leben wie im Westen bald möglich sein würde. Das Land hätte die Voraussetzungen gehabt. Rohstoffe, Menschen, alles!“ Sie schlägt mit der Faust auf den Tisch. Nur am Verstand habe es gefehlt. Die Politiker korrupt, die Gemeinschaft abgeschafft. Und die Freiheit? „Welche Freiheit, wenn ich es mir nur leisten kann, bis hinter den Hühnerstall zu reisen?“ In Rumänien habe sich seit 1989 nichts geändert. Und schon gar nicht zum Guten. Im Dorf lebe nun jeder für sich allein. Mit den Rumänen und Roma, die zuziehen, wächst der Rest der Sachsen nicht zusammen.

Das Leben der Siebenbürger Sachsen war über die Jahrhunderte immer einfach und hart. Mit den Jahreszeiten bearbeiteten die Bauern die Äcker, schnitten die Hügellandschaft in bunte Streifen für Weizen, Wein und Wiesen. Die Nachbarschaften, in denen sich die Familien organisierten, säten und ernteten und feierten gemeinsam. Selten starb im Dorf ein Mensch allein. Wie in einem Räderwerk griff die eine Hand in die andere, die Gemeinschaft spannte einen Schutzschirm über die Schwachen, Witwen und Waisen – und die soziale Kontrolle über die anderen. Wer noch Fragen hatte, wandte sich an den evangelischen Pastor, der von der Kanzel Fleiß und Genügsamkeit predigte.


Die neue Wirklichkeit. Dass der Pastor längst nicht mehr im Pfarrhaus wohnt und nur noch zu den Gottesdiensten aus der Stadt anreist, ist Rudi Ziegler, Dorotheas Sohn, gewöhnt. Dem 28-Jährigen, der als Ingenieur bei einem deutschen Unternehmen in der nahen Stadt Schässburg (Sighişoara) arbeitet, fällt es leichter, die neue Keisder Wirklichkeit zu akzeptieren. Er kennt es seit Kindestagen nicht anders. Noch will er das Leben hier versuchen, inmitten der Hügellandschaft, im Rhythmus von Natur und Tier. „Durch die deutschen Firmen habe ich eine Perspektive“, erklärt der Mann mit dem bubenhaften Gesicht. Ohne die ausländischen Investoren aber sähe die Lage anders aus: Die rumänische Industrie hat die Wendezeit nicht überlebt, in der Gegend leben die meisten Menschen als Selbstversorger von den kleinen Höfen.

Wenige Schritte weiter wartet in der Kirche Katharina Ziegler auf die Handvoll Besucher. Auch sie hat sich für Keisd entschieden, als nicht nur das sozialistische System, sondern auch die Keisder Welt zusammenbrach – wenn auch nicht ganz freiwillig. Ihre Eltern wollten bleiben, so tat die zierliche Frau es auch. „Am meisten fehlen die Freunde“, sagt die 48-Jährige. Manchmal kommt Dorothea, mit der sie der Nachname, aber keine Verwandtschaft verbindet, zu ihr. Dann trinken die Frauen Tee und erzählen einander von früher, zeichnen gemeinsam Bilder einer verlorenen Zeit. Nur noch mit Dorothea kann sie sich auf Sächsisch unterhalten. Die Kinder lernen den Dialekt nicht mehr.

Wenn die Tassen leer getrunken sind, geht Dorothea zu Fuß nach Hause. Auf der menschenleeren Straße, an der verfallenen deutschen Schule vorbei. Sie schließt das Haustor hinter sich und streichelt die Katze. In diesen Momenten denkt sie, dass es für sie in Deutschland wohl besser gekommen wäre. Doch nun sei es zu spät.

FAKTEN

Die Siebenbürger Sachsen zogen im 12.Jahrhundert aus dem mittelrheinischen und moselfränkischen Raum zu. Der ungarische König Géza II. hatte sie gerufen, um sein Land urbar zu machen und die Grenzen zu verteidigen.


225.000
Siebenbürger Sachsen haben ihre rumänische Heimat seit den 1970er-Jahren verlassen, rund die Hälfte kurz nach der Revolution 1989.


In Rumänien
leben heute noch rund 15.000 Sachsen. Vor allem die Alten haben den Schritt in die BRD nicht gewagt. Die Gemeinde Keisd zählt noch 26 von einst mehr als 1200 Sachsen. Kinder gibt es kaum noch.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.10.2014)

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