Kanada: "Wir sind stark und frei"

People write messages on a Canadian flag in a makeshift memorial in honour of Cpl. Nathan Cirillo, outside the Lieutenant-Colonel John Weir Foote Armoury in Hamilton
People write messages on a Canadian flag in a makeshift memorial in honour of Cpl. Nathan Cirillo, outside the Lieutenant-Colonel John Weir Foote Armoury in HamiltonREUTERS
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Auch nach den Anschlägen von Ottawa stellt die Mehrheit der Kanadier ihre Freiheitsrechte nicht infrage. Die konservative Regierung fordert indes mehr Macht für die Ordnungshüter.

Nur einen Steinwurf vom National War Memorial entfernt leuchten die Fenster von D'Arcy McGee's Pub. Freitagabend, üblicher Betrieb. Das Pub ist eine der populärsten Kneipen in Kanadas Hauptstadt Ottawa. Thomas D'Arcy McGee war einer der Gründerväter der kanadischen Föderation. Am 7. April 1868 wurde er vor seinem Haus in Ottawa ermordet. Bis heute ist D'Arcy McGee der einzige Bundespolitiker, der durch ein Attentat ums Leben kam. Seine Ermordung hat einen festen Platz in Kanadas Geschichte.

Von D'Arcy McGee's Pub aus ist das imposante National War Memorial zu sehen. Es erinnert an die Opfer der Weltkriege. Seit Mittwoch ist es auch der Ort, an dem ein Verbrechen begangen wurde, das die Nation schockierte. Hier wurde der Soldat Nathan Cirillo hinterrücks erschossen, dann stürmte der mutmaßliche Täter ins Parlament, verbreitete dort Angst und Schrecken und wurde erschossen. Es war zwei Tage nach der tödlichen Attacke auf einen Soldaten in St-Jean-sur-Richelieu bei Montreal. Zwei Gewalttaten binnen 48 Stunden. Hätte sich der Täter von Ottawa im Parlament ausgekannt, hätte es der reine Horror werden können: Er rannte an der Tür vorbei, hinter der die konservative Fraktion mit Premier Stephen Harper versammelt war.

Nach Ottawa kehrt die Normalität zurück. Die Stadt am Ottawa- und Rideau-Fluss ist ruhig und beschaulich, mit vielen Sehenswürdigkeiten, Kulturangeboten und hohem Freizeitwert. Parliament Hill mit dem Zentralgebäude und dem Peace Tower, dem Ost- und dem West-Block und der Freifläche zieht die Bewohner Ottawas und Besucher an. Wer in das Parlament will, passiert eine Sicherheitsschleuse. Politiker treffen auf Besucher. Das Gebäude ist das Zentrum der kanadischen Demokratie. Zwar wurden in den vergangenen Jahren die Sicherheitsvorkehrungen verschärft, aber Parlament und Regierungsgebäude wurden, anders als vergleichbare Institutionen der USA, nicht zu Festungen.

In Militäruniform und mit Gitarre kommt Joseph Crowley zum Kriegsdenkmal. Er ist Veteran der Streitkräfte. Er greift zur Gitarre und singt John Lennons „All we are saying is give peace a chance“. Es herrscht eine Stimmung der Entschlossenheit. „Wir sind stark und frei“, sagt Josee Menard aus British Columbia und zitiert damit aus der Nationalhymne. Aber die Frage, die viele bewegt, lautet: Werden die Ereignisse dieser Woche Kanada verändern?

Mehr Überwachung? Schon jetzt zeigen sich mögliche Konsequenzen. Bei aller Einigkeit der Abgeordneten, sich nicht einschüchtern zu lassen, sind Unterschiede zwischen den Parteien erkennbar. Die konservative Regierung Harper, die sich als „Law and Order“-Partei versteht, will Polizei und Geheimdienst neue Vollmachten geben. „Unsere Gesetze und Polizeibefugnisse müssen im Bereich der Überwachung, der Festnahme und des Arrests gestärkt werden“, kündigt Harper an. Er spricht von einem Terrorakt, obwohl es bisher keine eindeutigen Anzeichen gibt, dass der mutmaßliche Täter direkte Verbindungen zu einer Terrorgruppe hatte, sondern wohl ein radikalisierter Einzeltäter mit Drogen- und psychischen Problemen war. Die Opposition spricht daher von einem kriminellen Akt. „Wir dürfen Hass und Gewalt nicht erlauben, unsere Identität zu verändern“, mahnt der Sozialdemokrat Thomas Mulcair. In einem Jahr wird ein neues Parlament gewählt.

Kanada versteht sich als offenes, tolerantes, freiheitsliebendes und multikulturelles Land, in dem viele Kulturen friedlich zusammenleben. Kanadas Muslime hoffen nun, dass die Anschläge das Klima nicht vergiften. Auf ihre Bürgerrechtscharta sind die Kanadier stolz. Sie sind entschlossen, Terroristen die Stirn zu bieten, vielleicht auch bereit, in einzelnen Bereichen Sicherheitsorganen zusätzliche Kompetenzen zu geben. Bürger wissen aber auch, dass es hundertprozentige Sicherheit nicht geben kann. „Am Tag danach – Wir sind immer noch Kanada“ titelte die Zeitung „Globe and Mail“.

Die im Ausland gestellte Frage „Warum gerade Kanada?“ zeugt vor allem von Unkenntnis. Kanada hat politische Gewalt und Bedrohungen erlebt, etwa in der Oktoberkrise von 1970 mit dem separatistischen Terror in Quebec. Vor weniger als zehn Jahren wurde in Toronto eine Terroristenzelle ausgehoben, die Pläne für die Erstürmung des Parlaments und die Ermordung des Premiers ausgearbeitet haben soll.

Der Mythos vom „friedliebenden Land“ suggeriert, Kanada sei ein pazifistisches Land. Kanada aber hat in beiden Weltkriegen und im Korea-Krieg gekämpft. Es beteiligt sich an Nato-Aktionen. Es führte Krieg in Afghanistan, schloss sich in Libyen den internationalen Militärschlägen gegen das Gaddafi-Regime an und nun auch den Militäraktionen gegen den Islamischen Staat (IS) im Irak. In den acht Jahren unter Harper hat Kanada in der Außenpolitik seine ausgleichende Rolle, die es über lange Zeit zu einem möglichen Vermittler in Konflikten gemacht hat, aufgegeben. Das Land ist jetzt ein Hardliner, der schnell nach Sanktionen ruft oder Verhandlungen von vornherein wenig Erfolgschancen gibt.

Nicht unverwundbar. „Wir fühlen jetzt die Auswirkungen brutaler Attacken, die wir sonst nur aus dem Fernsehen kennen“, meint die junge Kanadierin Julia Ehrhardt. „Vielleicht realisieren wir, dass Kanada nicht unverwundbar ist. Aber die Art, wie wir auf den Anschlag reagiert haben, mit Liebe und Anteilnahme, hat geholfen, uns zusammenzubringen.“ Ehrhardt hofft, dass bei den Bemühungen, die Sicherheit im Parlament zu verbessern, Freiheitsrechte nicht eingeschränkt werden. „Ich möchte nicht in einem Land leben, das so amerikanisiert ist, mit noch mehr ,Racial Profiling‘ als wir schon haben.“

Die Kanadier wollen an dem Land, wie sie es kennen und lieben, festhalten. Am Kriegsdenkmal greift Veteran Joseph Crowley zu seiner Gitarre: „This land is your land, this land is my land. This land was made for you and me.“

Fakten

Ottawa (Provinz Ontario) ist Kanadas viertgrößter Ballungsraum mit 1,2 Millionen Einwohnern. Die Stadt selbst hat „nur“ etwa 883.000 Einwohner. Ottawa ist offiziell zweisprachig – 63% sprechen Englisch, 15% Französisch.

An der Stelle von Indianersiedlungen entstand im frühen 19.Jahrhundert eine Siedlung namens Bytown rund um die Baustelle des Rideau-Kanals. Das Stadtrecht erhielt Bytown 1850, fünf Jahre später wurde es offiziell in Ottawa umbenannt.

Königin Victoria wählte Ottawa 1857 als Hauptstadt für die Provinz Kanada aus. Hauptstadt ist Ottawa bis heute geblieben, wenngleich Kanada formal am 17. April 1982 von Großbritannien unabhängig wurde.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.10.2014)

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