Indien: Schwere Kost für Hindu-Nationalisten

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Der Oscar-verdächtige Streifen „Slumdog Millionaire“ sorgt für Volkszorn und Ausschreitungen vor Kinos.

DELHI. Panaji, Hauptstadt des Bundesstaats Goa: Dutzende Männer mit gelben Stirnbändern stehen vor einem Multiplexkino. Es sind Mitglieder der fanatischen Hindu-Partei „Shiv Sena“ und einer Nationalistengruppe. Sie grölen Sprechchöre, schreien Kinogänger an. Dann stürmen sie das Kino, reißen Plakate ab, zertrümmern den Schalter. Die Polizei kommt, prügelt auf die Meute ein und nimmt mehrere Fanatiker fest.

Grund der Gewalt: der indische Kinostart des Films „Slumdog Millionaire“ von Danny Boyle, der für zehn Oscars nominiert wurde. Gegen den Film protestieren in Indien Anhänger der Hindu-Rechten: Sie empört vor allem, dass ein Ausländer eine so scharfe Kritik der Verhältnisse in Indien formuliert.

Tatsächlich zeichnet der Film kein schönes Bild des Landes, das sich gern als neue Supermacht darstellt. Schon am Anfang steht nackte Gewalt: Ein Mann hängt in einem Polizeirevier von der Decke. Polizisten schlagen ihn: Jamal Malik, ein Muslim aus Bombays (Mumbais) Riesen-Slum Dharavi, hat soeben fast alle Fragen der Quizshow „Kaun Banega Crorepati“, Indiens Variante der „Millionenshow“, beantwortet. Nur eine Antwort trennt ihn vom Hauptgewinn von 20 Millionen Rupien (313.000 Euro). Die Polizisten aber wittern Betrug und wollen erfahren, wie Malik so weit kommen konnte.

Prostitution, Verstümmelungen, Schmutz

Warum Malik so viel weiß, beantwortet der Film, indem er Sequenzen aus dem Leben des 18-Jährigen zeigt. Es sind Bilder des Grauens: Slum-Mädchen werden zur Prostitution gezwungen, Straßenjungs verstümmelt, um für die Hintermänner mehr Geld erbetteln zu können. Es gibt Szenen aus Bombays Unterwelt, eine schildert das Massaker, als Hindus 1993 in Bombay mehr als tausend Moslems töteten. Kein Wunder, dass die Hindu-Rechte das Verbot des Films fordert.

Sogar Bollywood-Star Amitabh Bachchan schrieb in seinem Blog, die Darstellung Indiens als schmutziges Drittweltland habe „Nationalisten und Patrioten“ verletzt. Später relativierte er: Er habe Einträge anderer Blogger zusammengefasst, um Diskussionen anzuregen. Bachchan dürfte die Darstellung des niederträchtigen Quizmasters im Film auf den Magen geschlagen haben: Er war selbst Showmaster von Indiens Millionenshow.

Am meisten Beachtung findet die Klage des Slum-Aktivisten Tapeshwar Vishwakarma aus Patna: Er zeigte den Musikproduzenten des Films, A. R. Rahman, sowie den Schauspieler Anil Kapoor an, weil sie „Menschenrechte“ von Slum-Bewohnern verletzt hätten. Und ihn stört der Begriff „Slumdog“, der Millionen Slum-Bewohner diffamiere.

Dennoch könnte „Slumdog Millionaire“ gerade bei der Unterschicht ein Knüller werden, denn er erfüllt die Hauptfunktion, die auch die bunten, lauten und oft unwirklichen Bollywood-Schinken bedienen: Er ist ein surreales Märchen, das den Zuseher für Stunden seine oft harte Realität vergessen lässt. Und er zeigt, dass auch ein Armer „Crorepati“ (Rupien-Millionär) werden kann – und zwar nicht, obwohl er aus dem Slum stammt, sondern weil er in seinem Leben ganz unten viel lernen und improvisieren musste, um zu überleben. An der Darstellung von Armut, Ungerechtigkeit und Polizeigewalt, gegen die Indiens rechte Moralisten aufschreien, wird sich unter den Armen kaum jemand stören: Sie kennen dieses Leben.

„Kein infamer westlicher Blick“

„Vergesst die gekränkten nationalistischen Gefühle“, schreibt Nikhat Kazmi, Kolumnist der „Times of India“. „Slumdog Millionaire“ sei kein Fall eines „infamen westlichen Blicks“, der orientalisches Elend aufstöbere, um es als „exotische Schmutzladung“ auf westliche Zuseher loszulassen; er sei fesselndes Kino, das als Aschenputtel-Märchen gemeint ist, mit einer Dosis Thriller und der Vision eines Künstlers. Filmfestival Rotterdam, S. 25

ZUR PERSON

Danny Boyle (*1956 in Manchester) begann seine Karriere als Theaterregisseur. Später wandte er sich dem TV und dem Kino zu. Sein erster Film, die Low-Budget-Produktion „Shallow Grave“ („Kleine Morde unter Freunden“) wurde 1994 ein Hit. Danach folgten „Trainspotting“ sowie „Lebe lieber ungewöhnlich“ mit Ewan McGregor in den Hauptrollen sowie „The Beach“ mit Leonardo DiCaprio. Sein neuer Film „Slumdog Millionaire“ wurde mehrfach prämiert und für zehn Oscars nominiert; Boyle erhielt den Golden Globe als bester Regisseur. [EPA]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.01.2009)

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