Ukraine: Jazenjuks mediale Panne, die zum „Atomunfall“ wurde

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Der ukrainische Premier Arsenij Jazenjuk sprach vor Journalisten von einem Unfall im AKW Saporischija – später gab die Regierung Entwarnung.

Kiew/Wien. Es war nur eine einzeilige Meldung der Nachrichtenagentur Reuters, aber sie schien alle bisherigen schlechten Meldungen aus der Ukraine zu übertreffen, die von getöteten Zivilisten im ostukrainischen Konfliktgebiet, die vom täglich drohenden wirtschaftlichen Zusammenbruch. „Jazenjuk: Atomunfall im Südosten der Ukraine“. Es waren diese Worte, die gestern um 11.57 Uhr über den Ticker liefen und in Windeseile Verbreitung in sozialen Netzwerken fanden. Ein möglicher Atomunfall in der Ukraine, das lässt in Europa Erinnerungen an den Super-GAU im Atomkraftwerk Tschernobyl von 1986 wach werden. Und es wirft unangenehme Fragen auf nach der Sicherheit der insgesamt vier ukrainischen AKW – zumal das betroffene Kraftwerk Saporischija in der Dnepr-Stadt Enerhodar nur drei Fahrstunden von Donezk entfernt liegt. Es wurde 1984 in Betrieb genommen und ist das leistungsstärkste Kernkraftwerk Europas.

Bei der wenig später einberufenen Pressekonferenz war der erst seit zwei Tagen im Amt befindliche Energieminister Wolodimir Demtschischin (s. Artikel unten) um Beruhigung bemüht: „Es gibt keine Gefahr, keine Probleme mit den Reaktoren.“ Von einem „Unfall“ sprach der Minister nicht mehr.

Offenbar ist es im AKW Saporischija zu einem technischen Defekt gekommen – allerdings schon am 28. November. An diesem Tag wurde um 19.24 Uhr der Reaktorblock drei abgeschaltet. Ukrainische Medien hatten zu Wochenbeginn – unbemerkt von der Weltöffentlichkeit – von „Wartungsarbeiten“ am Block drei berichtet. Auch eine Mitarbeiterin des Informationszentrums des Atomkraftwerks bestätigte dies gestern im Telefongespräch mit der „Presse“. Einer von vier Reaktorblöcken sei „aus technischen Gründen“ am vergangenen Freitag abgeschaltet worden und werde in zwei Tagen, also am 5. Dezember, wieder ans Netz gehen. Es gebe „keinen Unfall“ und „keine radioaktive Strahlung“, versicherte die Mitarbeiterin. Auch das französische Institut für nukleare Sicherheit (IRSN), das zwei Messgeräte auf dem Dach der französischen Botschaft in Kiew installiert hat, hat keine außergewöhnliche Belastung durch Radioaktivität bemerkt. Auf die Frage, warum dann der Premier einen „Unfall“ gemeldet habe, erklärte die AKW-Mitarbeiterin in Enerhodar keck: „Offenbar wissen ein paar hochrangige Leute nicht, wovon sie sprechen.“

Panne? Störfall? Unglück?

Die widersprüchliche Informationspolitik der Regierung wirft einige Fragen auf: Politische Blauäugigkeit kann man Premier Jazenjuk schwer vorwerfen. Schließlich ist er ein alter Hase im Politikgeschäft, der wissen muss, welche (Stress-)Reaktionen eine derartige Nachricht auslöst. War er schlecht informiert? Auch das scheint unwahrscheinlich, denn ukrainische Medien hatten über die außerplanmäßige Abschaltung des Reaktors bereits am Montag berichtet. War die überzogene Meldung vielleicht gar Kalkül?
Hoffentlich nicht. Die ukrainischen Behörden haben sich im bewaffneten Konflikt im Donbass in der Vergangenheit ein paar Falschmeldungen geleistet. Das Vertrauen ihrer westlichen Partner haben sie damit nicht gefördert. Vielleicht war die kurze Aufregung auch nur einer missverständlichen Übersetzung geschuldet: Jazenjuk hat im Ukrainischen von einer „awarija“ gesprochen. Das kann Panne, Störfall oder Unfall heißen.
Und übrigens auch Unglück.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.12.2014)

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