In der Hölle der Banlieues

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Arbeitslosigkeit, Verarmung, Zuwanderung, Kriminalität: Ist von den Vorstädten der europäischen Metropolen die Rede, dann immer von ihren Problemen. Paris, London, Rom, Stockholm:

Es gibt diese No-go-Zone in Paris“, erklärte ein Kommentator, der dem amerikanischen Nachrichtensender Fox News zugeschaltet war und die Terroranschläge von Paris kommentierte. In diesen Gebieten mit sehr hoher muslimischer Bevölkerungsdichte gelte eine lokale Rechtsstaatlichkeit oder sogar die islamische Scharia. Die Polizei traue sich nicht hineingehen. „Nur diese Zonen gibt es nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa. [...] Es sind Orte, an denen Regierungen wie Frankreich, Großbritannien, Schweden oder Deutschland keine Souveränität haben“, sagte Steve Emerson live.

Die Pariser Bürgermeisterin, Anne Hidalgo, reagierte prompt – und beleidigt: Sie kündigte an, den TV-Sender zu verklagen, weil Paris immer wieder ins falsche Licht gerückt werde. Immerhin stünden „das Ansehen von Paris und die Ehre von Paris“ auf dem Spiel.

Zwei der Attentäter von Paris sind in den Vorstädten groß geworden – und haben sich dort radikalisiert. Immer wieder kommt es zu starken sozialen Spannungen, die sich in Unruhen entladen: In Paris und in London lieferten sich meist aufgebrachte Jugendliche mit der Polizei Straßenkämpfe, warfen Steine und steckten Autos in Brand. Sogar im sonst so friedlichen Stockholm ließen Jugendliche sich 2013 zu Krawallen hinreißen. Doch wie sieht es in den Vorstädten der europäischen Metropolen mit all ihren Problemen tatsächlich aus? Sind sie tatsächlich Zonen, die Nichtmoslems meiden und in die sich nicht einmal die Polizei traut?

Hinter der Pariser »Bannmeile«


Die Vorstadtquartiere heißen auf Französisch „banlieue“, was auf Deutsch die historische Bannmeile bezeichnet. Besser könnte man nicht zum Ausdruck bringen, wie diese meist vor 50 bis 60 Jahren aus dem Boden gestampften Hochhaussiedlungen, die damals die „bidonvilles“, die Elendsviertel der Fremdarbeiterfamilien, ersetzt und zunächst als großer Fortschritt gegolten haben, heute ein Ort der Ausgrenzung geworden sind. Oft vergleicht man diese Quartiere, deren architektonische Trostlosigkeit nur noch von der sozialen Misere und der omnipräsenten Drogen- und Bandenkriminalität übertroffen wird, auch mit „Indianerreservaten“. In einige dieser Siedlungen wagt sich die Polizei nur in größeren Verbänden vor.
Regelmäßig kommt es zu Revolten. Als 2005 in Clichy-sous-Bois im Norden von Paris zwei Junge auf der Flucht vor einer polizeilichen Kontrolle in einer Anlage des Elektrokonzerns EDF ums Leben kamen, löste dies mehrwöchige Unruhen in allen Landesteilen aus, in deren Verlauf Tausende von Fahrzeugen sowie Geschäfte, Garagen und Lager in Brand gesteckt wurden. Der damalige Präsident, Jacques Chirac, versprach einen „Marshall-Plan für die Banlieue“. Seither wurde zwar viel Geld investiert – an der Ungleichheit hat dies aber wenig geändert.

Im Land der Gleichheit. Frankreichs Premierminister, Manuel Valls, hat im Zusammenhang mit der Ghettobildung in bestimmten Vorortesiedlungen vor „territorialer, sozialer und ethnischer Apartheid“ gewarnt. Die konservative Opposition hat gegen diesen Vergleich mit der Segregation protestiert, weil er eine Beleidigung für die Tradition der Menschenrechte darstelle. Dennoch gibt die Realität dem Regierungschef recht: Rund um Paris leben in vielen der Sozialwohnungssiedlungen fast ausschließlich Immigrantenfamilien. Mit der Krise stieg dort die Arbeitslosigkeit am stärksten. In vielen Vorstädten beträgt vor allem die Jugendarbeitslosigkeit häufig 40 % oder mehr. Das senkt die Attraktivität dieser Wohngebiete und fördert zusätzlich die Konzentration armer und schlecht integrierter Bevölkerungsschichten.
Ausgerechnet in einem Land, das die Gleichheit der Bürger als Kardinaltugend der Republik definiert hat, sind die Bewohner der Banlieues noch weit vom Ziel einer Chancengleichheit entfernt. Obwohl es immer wieder trotz aller Hindernisse einzelne Strebsame bis in die Elite schaffen, macht sich Fatalismus breit. Wer von den Jugendlichen nicht auf kriminelle Abwege gerät, sucht nicht selten Halt und Zuflucht in der Religion der eingewanderten Väter. Anders als bei der Stellen- und Wohnungssuche scheint in den Moscheen oder Kirchen der neuen evangelikalen Prediger die Herkunft aus der Banlieue kein Handicap zu sein. Rudolf Balmer

Die »Streets of London« werden gefährlicher


London wird oft als Ansammlung von 33 Bezirken bezeichnet, von denen jeder sein eigenes Zentrum hat. Die Unterscheidung in Innenstadt und Vorstadt trifft man am leichtesten anhand der U-Bahn-Zonen. Zone 1 markiert den Zentralbereich, Zone 9 stellt die äußerste Grenze im Nordwesten dar.
Die Zersplitterung führt dazu, dass Verarmung und Verwahrlosung nicht unbedingt ein Phänomen der Vorstädte sind. Stattdessen hat London das Problem der Ghettoisierung: Die notorische Wohnungsknappheit führt zu einer solchen Verdichtung, dass innerhalb weniger Straßenzüge ganze Subkulturen entstehen können. So öffnete eine Serie von Mordfällen vor einigen Jahren der verblüfften Stadt die Augen für die Tatsache, dass im schicken Bezirk Islington ein paar Meter von der überlaufenen High Street Sozialbauten von Jugendbanden wahrhaft in Angst und Schrecken versetzt wurden.
Andererseits gibt es traditionelle Ansiedlungsgebiete von Volksgruppen: In Brixton im Süden sind Dunkelhäutige vorherrschend, in Whitechapel geben im Umkreis der East London Mosque Moslems hör- und sichtbar den Ton an. In unmittelbarer Gegend, in der Cable Street, führte 1936 der britische Faschistenführer Oswald Mosley seine Truppen in gewaltsame Zusammenstöße. Während sich heute in der Cable Street Halal-Fleischer und Bengal-Supermarkt abwechseln, sind die geistigen Nachfahren Mosleys unter dem Banner der English Defence League an den östlichen Stadtrand in den ehemaligen Industriebezirk Dagenham verdrängt worden.

Verarmte Gegenden. Wer sich zur falschen Zeit im falschen Bezirk befindet, kann das teuer bezahlen. Nach Tottenham oder Edmonton sollte man sich nicht unbedingt auf einen lauschigen Spaziergang aufmachen (es gibt dort auch nichts zu sehen). Wenn die Gewalt aufflammt, dann aber meistens innerhalb der Gruppe: Allein in den ersten zehn Tagen des heurigen Jahres wurden in London neun Menschen ermordet. In den Fällen, in denen die Polizei die Täter ausforschen konnte, handelte es sich um Menschen aus dem Umkreis der Opfer. Geografisch festzumachen waren die Taten jedoch nicht: Gemordet wurde am helllichten Tag neben der noblen Marylebone High Street ebenso wie mitten in der Nacht in wüster Verfolgungsjagd auf der Old Kent Road im Süden.
Insgesamt ist die Mordrate aber rückläufig und fiel 2014 erstmals seit 42 Jahren unter 100. Eine kürzlich veröffentlichte Studie über Morde an Jugendlichen in den vergangenen zehn Jahren kommt zu dem Ergebnis, dass die Anzahl in zwei der vier ärmsten Bezirke Londons, Hackney und Newham, am größten ist. „Es gibt eine Verknüpfung zwischen Verarmung und diesen Toten“, meint die Studie. „Aber das kann nur der Anfang der Analyse sein.“ In der Kriminalstatistik vorn liegen überraschenderweise die Nobelbezirke Westminster, Kensington und Chelsea: In der Wohngegend finden die meisten Eigentumsdelikte statt, und vom Familiensilber bis zum SUV wird oft reiche Beute gemacht. Gabriel Rath

Vom Ende der Ruhe in Roms Vorstädten


Dass sie brandgefährliche Bezirke hat, das ist der italienischen Hauptstadt erst im November vorigen Jahres bewusst geworden, wenigstens für ein paar Tage. Bis dahin hielt Rom seine „Banlieues“ zwar für heruntergekommen; man wusste auch, dass sich die Polizei nicht mehr in Vorstädte wie Tor Bella Monaca hineinwagt. Aber was dort geschah, das ließ sich unter gewöhnlicher Bandenkriminalität abhaken, sozialer Sprengstoff steckte nicht darin. Kein Grund also zur Aufregung. Dachte man. Dann aber randalierte der Mob – zum ersten Mal in Italien – gegen ein Wohnheim für minderjährige Flüchtlinge, und schlagartig wurde die Peripherie zum Thema: die Ballung von allen möglichen, in ihrer Besitzlosigkeit und ihrer Ausgrenzung aber gleichen Bevölkerungsgruppen, von Italienern wie von Zuwanderern, die Gesetzlosigkeit beziehungsweise das Faustrecht, die tagtäglichen Besetzungen von Häusern und Wohnungen durch Einheimische und Zuwanderer gleichermaßen. Es reicht schon, wenn der rechtmäßige Mieter oder Eigentümer für zwei Tage abwesend ist – die Perspektiv- und Hilflosigkeit, die alle vereint, die nicht ihre Ellbogen ausfahren.
Mittlerweile gibt es Anzeichen, dass mafiöse Gruppen die sozialen Unruhen vom November angefacht haben. Mit anderen Worten: Es muss nur einer die Lunte anzünden, dann brennt alles.

Wo Kokain regiert. Mailand steht vor dem gleichen Problem: Die fortschreitende Verarmung der Mittelschichten führt dazu, dass immer mehr ihre Miete nicht zahlen (können), immer mehr ihre Wohnung verlieren und die Proteste dagegen immer radikaler werden. Schlachten mit den Räumkommandos liefern sich nicht nur Gekündigte und Hausbesetzer, die sich illegal in leer stehenden Sozialwohnungen breitgemacht haben, sondern auch diejenigen unter ihnen, die ganze Mietskasernen als Umschlagplatz für ihren Drogenhandel in Beschlag nehmen. Dabei arbeiten nordafrikanische Zuwanderer und Einheimische Hand in Hand – als Zulieferer nicht nur für Junkies, sondern auch, mit Kokain, für die reiche Mailänder Bourgeoisie.
Bis zum Auffliegen der Probleme in Mailand und Rom genossen das palermische Quartier Zen und die neapolitanische Vorstadt Scampia den schlimmsten Ruf in Italien (jedenfalls bei allen, die Neapel nicht als Ganzes für eine Vorstadt halten). Scampia, von Roberto Saviano in „Gomorrha“ beschrieben, gilt als verloren. Kontrolliert von der Camorra ist es einer der Hauptmärkte für Kokain in Europa. Wobei wenigstens die Camorra allen, die mitmachen, einen sicheren Job und guten Lohn garantiert. „Warum soll ich eine Lehrstelle suchen, die ich ohnehin nirgendwo finde, wenn ich beim Schmierestehen genug verdiene?“, sagte erneut ein junger Mann aus Scampia im Radio. Paul Kreiner

Isoliert, aber friedlich: Die Ghettos von Stockholm


Das malerische Stockholm hat eine Kehrseite, die Touristen selten zu Gesicht bekommen. Während die blonden Schweden in der wohlhabenden Innenstadt und einigen beschaulichen Nahvororten wohnen, kommen Einwanderer nur zum Arbeiten in die Stadt und verschwinden nach Dienstschluss wieder brav in ihre deprimierenden, weitab liegenden Betonvororte. Die Segregation ist fast absolut.
Diese fast ausschließlich von Zuwanderern bewohnten Viertel und ihre sozialen Probleme schließen sich wie ein Gürtel um die Innenstadt der Erfolgreichen, denen oft die bloße Existenz der Ghettos entfällt. Aber der Ausdruck Ghetto ist eigentlich eine Übertreibung. Normalerweise ist es dort sehr ruhig, sauber und für niemanden gefährlich. Lebensstandard, Infrastruktur und Wohnqualität sind zumeist auf hohem schwedischen Standard.
Nur 2013 kam es zu vereinzelten Jugendkrawallen, die laut einem schwedischen Diplomaten in der ausländischen Presse „maßlos übertrieben“ dargestellt wurden. Der Großraum Stockholm hat überschaubare 2,19 Millionen Einwohner. Stockholm ist sehr reich, die Arbeitslosigkeit gering. Auch der jahrzehntelang soziale Unterschiede minimierende Wohlfahrts- und Volksbildungsstaat Schweden hat lang als Befriedungs- und Integrationsmaschine gewirkt. Auch andersherum. Die Schweden selbst sind selten rassistisch, und wenn, dann zeigen sie es den Migranten nicht. Schweden ticken in Bezug auf Rassismus anders: So gab es etwa einen bekannten, von der Szene akzeptierten Neonazi, der schwarz war, aber von schwedischen Eltern adoptiert wurde. Man ist gegenüber Minderheiten wie Muslimen toleranter und weniger hasserfüllt als andernorts in Europa. Das sagen moslemische Einwanderer häufig, die etwa zuvor in Deutschland waren.

Gute Schulen und Ausbildung. In Schweden machen über 90 Prozent aller Schüler das Abitur, auch die Einwanderer, die häufig schon in der zweiten Generation perfekt Schwedisch sprechen. Auch wenn es Probleme gibt, die sich 2013 in ein paar Zusammenstößen mit brennenden Autos entladen haben, wurden Stockholmer Einwanderervororte von Franzosen zu Recht als Vorbild gepriesen, als es in Paris zu den ganz großen Vorstadtausschreitungen kam.
Ein großes staatliches Netz aus Sozial- und Ausbildungsmaßnahmen sorgt neben der florierenden Privatwirtschaft dafür, dass es sozial schwachen Einwanderern in Stockholm besser geht als andernorts. Es gibt etwa Schulen im Einwanderervorort Skärholmen, die einen so guten Ruf genießen, dass Eltern von anderen Stadtteilen ihre Kinder dorthin schicken möchten.
Auch in Schweden wird jedoch die soziale Kluft größer, Wohlfahrtsstaat und Integration stehen auf der Kippe, wenn auch noch immer auf einem hohen Niveau von jahrzehntelangen Errungenschaften.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.01.2015)

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