USA: Die Panik vor dem Blizzard, der nicht kam

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USA SNOWSTORM(c) APA/EPA/MATT CAMPBELL (MATT CAMPBELL)
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New York sperrte aus Angst vor einem Schneesturm alle Brücken sowie Tunnel und stellte den Verkehr ein. Die Katastrophe blieb aus, doch ein Lokalaugenschein der „Presse“ zeigt, wie einfach Amerikas größte Stadt zu lähmen ist.

Fünf Müllwagen mit aufgeschraubtem Schneepflug schaben in einer rumpelnden Prozession über den Union Square in Manhattan. Für gewöhnlich würde es hier am Montagabend vor Menschen wimmeln, wären die Bars und Restaurants in den Straßen in Richtung des Campus der New York University gesteckt voll. Doch am Abend vor dem Snowmageddon 2015 sieht man in dieser Acht-Millionen-Einwohner-Stadt kaum jemanden auf der Straße, sind fast alle Läden geschlossen und hört man an allen Ecken das Kratzen der Schneeschaufeln.

Snowmageddon 2015 hat die um ein flottes Etikett selten verlegene amerikanische Medienwelt diesen Schneesturm getauft, der der Ostküste der USA von Baltimore aufwärts über Philadelphia und New York bis in die Neuenglandstaaten und Kanada in der Nacht auf Dienstag historisch einmalige Mengen an Schnee bringen soll. Bis zu einem Meter drohe mancherorts fallen. Ein Blizzard rolle aus dem Tal des Ohio-Flusses auf Manhattan zu, „wie wir ihn noch nie gesehen haben“, orakelte Bürgermeister Bill de Blasio. Vorsorglich hat er veranlasst, dass sämtliche Brücken und Tunnel, die nach Manhattan führen, ab 23 Uhr gesperrt sind. Dann werden auch der Verkehr von Bussen und U-Bahnen eingestellt und private Autofahrten verboten, damit die Einsatzfahrzeuge freie Bahn haben.

Zehn Zentimeter Schnee

Wir finden nach langem Suchen eine vietnamesische Bar, die der angekündigten Witterung trotzt. Die Küche sei geschlossen, weil der Koch ansonsten nicht rechtzeitig nach Hause kommt, aber er könne eine Currysuppe aufwärmen, bietet der Barmann an. Auf dem Fernsehbildschirm über dem Tresen ist die blondierte Wetteransagerin von Fox News in ihrem Element. Es werde ganz, ganz schlimm, die New Yorker mögen bitte zu Hause bleiben. „Safe and secure“ lautet die Devise der seit den Anschlägen vom 11. September 2001 dauerverängstigten amerikanischen Gesellschaft, auch und besonders, wenn sie den Elementen ausgesetzt ist.

Am Dienstagmorgen jedoch ist auf New Yorks Straßen von den angekündigten Schneemassen nichts zu sehen. Bestenfalls zehn Zentimeter hat es über Nacht geschneit, es ist nicht besonders kalt, nur ein leichter Wind weht. Den Schnee auf den Straßen hat man mit Unmengen an Steinsalz in Matsch verwandelt. Die Kohorten der Schneepflüge schieben diesen auf die Gehsteige, von wo ihn Arbeiter mit Schaufeln und Schneefräsen zurück auf die Straßen kippen.

Man sieht noch immer kaum private Autos auf den Straßen, aber das liegt nicht am Fahrverbot, das frühmorgens aufgehoben wurde, sondern daran, dass viele Leute sich den Arbeitsweg erspart haben.

„Es kann ja jeder von zu Hause aus arbeiten“, sagt James zur „Presse“. Er arbeitet für gewöhnlich an der Wall Street, nun allerdings steht er an der Kreuzung East 23rd Street und Broadway, eine grellgrüne Pudelmütze auf dem Kopf und eine papageienorange Skibrille vor den Augen, und fotografiert die Schneemänner, in deren Hintergrund sich das Empire State Building emporreckt. Die Behörden hätten schon recht gehabt, vorsichtig zu sein, meint er. Das Chaos, das der Wirbelsturm Sandy vor zwei Jahren ausgelöst hat, steckt den New Yorkern noch in den Knochen.

Ohne U-Bahn nichts zu essen

Die Kellnerinnen, Verkäufer, Köche und alle anderen, die Manhattan ernähren, einkleiden und versorgen, können freilich nicht von zu Hause aus arbeiten. Sie können sich das Leben in Manhattan nicht leisten und wohnen in den ärmeren Stadtteilen Queens und Bronx. Ohne Bus oder U-Bahn kommen sie nicht vom Fleck. Darum sind am Dienstagmorgen alle Cafés und Imbisslokale geschlossen. Es ist wie in San Francisco, wenn die dortigen Verkehrsbetriebe streiken. Amerikas Metropolen sind wirtschaftlich so stark segregiert, die sozialen Klassen leben so weit voneinander entfernt, dass die Einstellung des U-Bahn-Systems sofort fast das gesamte öffentliche Leben zum Stillstand bringt. In Neuengland, hunderte Kilometer nördlich von New York, hat der Schneesturm tatsächlich hart zugeschlagen. Die Insel Nantucket vor der Küste von Massachusetts zum Beispiel, wo New Yorks Oberschicht ihre Sommerfrische verbringt, ist seit Montag komplett isoliert: kein Strom, kein Mobilfunk, keine Flüge, keine Fähren. Die Flughäfen von Boston, New York und New Jersey sind geschlossen, was die Passagiere von mehr als 7000 Flügen betrifft.

In New York allerdings nimmt ein gewöhnlicher Wintertag seinen Lauf. Man habe das Gröbste vermieden, wehrt sich Bürgermeister de Blasio gegen die Kritik, er habe überreagiert. „Berichten Sie lieber über die Australian Open“, gibt der Börsenmann James dem Reporter aus „Austria“ mit auf den Weg.

LEXIKON

Blizzards nennt man vor allem in Nordamerika und Australien schwere Schneestürme, die laut US-Wetterbehörde bei Windgeschwindigkeiten über 56 km/h mindestens drei Stunden dauern und die Sichtweite auf unter 400 Meter senken müssen. Die Etymologie des Wortes ist uneindeutig: Angeblich tauchte es um 1873 herum erstmals in den USA auf und leitet sich vom deutschen „blitzartig“ ab.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.01.2015)

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