Vom Überleben in der Großstadthölle

Straßenkinder in Manila
Straßenkinder in Manila Reuters
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Tag der Straßenkinder. Auf den Philippinen leben bis zu 1,5 Millionen Kinder meist völlig auf sich allein gestellt auf der Straße. Nur wenige schaffen den Weg aus der Armut – so wie Cindy.

Wien. „Mit meinem Vater habe ich auf der Straße gelebt“, erzählt Cindy. „Wir haben jeden Tag den Müll nach Essbarem durchsucht oder um etwas zu essen gebettelt.“ Cindy ist auf den schmutzigen Straßen eines Armenviertels in Manila aufgewachsen. Ihr Alltag in der philippinischen Hauptstadt ist vom Kampf ums Überleben geprägt. Sie sammelt das, was andere wegwerfen, um ein bisschen Geld zu verdienen. Plastikbecher bringt sie zu einem Händler, für Nachbarn verkauft sie gegen eine kleine Provision selbst gemachte Zuckerln.

So schlägt sich die damals etwa Siebenjährige durch das Leben in der Großstadthölle – begleitet von der ständigen Angst, von der Polizei geschnappt und weggebracht zu werden, in eines der überfüllten Gefängnisse.

Heute ist Cindy 21 Jahre alt – und erzählt in gutem Englisch und völlig selbstverständlich von den schrecklichen Erlebnissen in ihrer Kindheit. Auf der Straße gelandet sei sie damals, nachdem ein drogensüchtiger Freund ihrer ebenfalls drogensüchtigen Mutter sie vergewaltigt hatte. Sie lief weg. Sogar ein Leben auf der Straße schien ihr damals erträglicher, als länger dort zu bleiben.

Junge, arme Bevölkerung

So wie Cindy leben auf den Philippinen bis zu 1,5 Millionen Kinder auf der Straße. Die Bevölkerung des Inselstaats ist jung: Von den rund 100 Millionen Einwohnern sind etwa 35 Prozent jünger als 14 Jahre. 86 Prozent der Bevölkerung verdienen nicht genug, um ein menschenwürdiges Leben führen zu können. 5,4 Millionen Kinder müssen arbeiten, um das Familieneinkommen aufzubessern.

Allein im Ballungsgebiet Metro Manila rund um die philippinische Hauptstadt gibt es etwa 100.000 Straßenkinder. Sie sind entweder völlig auf sich allein gestellt, organisieren sich häufig in Banden, betteln, stehlen und suchen sich einen Platz zum Schlafen. Oder sie habe noch Kontakt zu ihren Eltern und kehren nachts regelmäßig nach Hause zurück. Sieben von zehn Straßenkindern auf den Philippinen sind Buben, aber auch immer mehr Mädchen landen auf der Straße.

„Warum gerade ich?“

Cindy hatte Glück: Die heute 21-Jährige, die gerade ihre Ausbildung als Kindergärtnerin abschließt, ist eines der wenigen Mädchen, die im Don-Bosco-Kinderschutzzentrum Laura Vicuña unterkommen ist. Mit acht Jahren hat Schwester Maria sie von der Straße aufgelesen, unterernährt, voller Ungeziefer, an Tuberkulose erkrankt. In endlosen Gesprächen über viele Jahre hinweg haben sich die Ordensschwestern mit Cindy darüber unterhalten, was passiert ist. „Warum ich? Warum haben gerade meine Eltern mir nicht das Leben geboten, das andere Kinder haben?“, sagt die junge Frau. Und: „Es ist nicht meine Schuld.“

Schwester Maria Victoria St.Ana, die Leiterin des Heims in Manila, ist für die traumatisierten Mädchen Mutter, Freundin und große Schwester zugleich. Gemeinsam mit Cindy ist die resolute Ordensfrau nach Wien gekommen, um über ihre Arbeit zu berichten. Finanzielle Unterstützung für das Kinderheim kommt auch aus Österreich, von der Organisation Jugend eine Welt.

Seit mehr als 20 Jahren arbeitet Schwester Maria mit Straßenkindern und hat die Entwicklungen beobachtet. Besonders nach Naturkatastrophen könne man sehen, dass mehr Kinder auf der Straße landen – wie etwa nach dem Taifun Haiyan im November 2013. „So viele Familien hatten überhaupt nichts mehr. Eltern waren bereit, ihre Kinder für wenig Geld etwa als Haushaltshilfen zu verkaufen“, sagt die international renommierte Expertin für Kinderrechte. Viele zogen auf der Suche nach Arbeit in die Hauptstadt, wo viele der Kinder auf den Straßen verschwanden. „Mädchen werden fast immer Opfer sexueller Gewalt“, sagt Schwester Maria. Und die Opfer würden immer jünger, meint sie. Das jüngste Mädchen, das nach sexuellem Missbrauch traumatisiert von der Straße in ihr Heim kam, war erst zwei Jahre alt.

Doch sie hat jetzt – so wie damals Cindy – die Chance, aus dem Kreislauf der Straße auszubrechen.

ZAHLEN

Die Zahl der Straßenkinder weltweit wird auf bis zu 100 Millionen geschätzt. Offizielle Statistiken gibt es dazu keine. Die Kinder sind nirgends registriert, haben weder Geburtsurkunde noch andere Dokumente und keinen Zugang zum Gesundheitssystem oder zu Schulen. Als Straßenkinder zählen nicht nur Minderjährige, die tatsächlich auf der Straße meist in den großen Ballungsräumen der Welt schlafen, sondern auch jene, die untertags herumstreunen, nachts aber zu ihren Familien in den Armenviertel zurückkehren.

Spenden unter: www.kindernothilfe.at

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.01.2015)

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