Die Juden vom Rio de la Plata

People take part in a peaceful demonstration, honouring late Argentine state prosecutor Alberto Nisman, outside the Argentina Embassy in Mexico City
People take part in a peaceful demonstration, honouring late Argentine state prosecutor Alberto Nisman, outside the Argentina Embassy in Mexico CityREUTERS
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Der mysteriöse Tod des Sonderstaatsanwalts Alberto Nisman reißt alte Gräben durch die größte und vielschichtigste jüdische Gemeinde Südamerikas in Buenos Aires erneut auf.

Es sollte eine Demonstration der Einigkeit werden. Vor dem Gebäude des jüdischen Sozialvereins Amia an der Calle Pasteur hatten sich 1500 Menschen versammelt, um sich dem Schweigemarsch für den Sonderstaatsanwalt Alberto Nisman anzuschließen. „Justicia“ verlangten Plakate. Anderthalb Straßenblocks lang war die Menschenkette, als sie losmarschierte, um vor dem argentinischen Kongress im Meer der hunderttausenden anderen Demonstranten aufzugehen, die schweigend marschierten – für das Andenken an Nisman und gegen die Politik der Präsidentin.

Unter den Demonstranten waren auch die Spitzen des jüdischen Dachverbandes Daia und des Sozialwerkes Amia. Dessen ursprüngliches Gebäude war am 18. Juli 1994 das Ziel des schlimmsten Terroraktes in Südamerikas Geschichte. Eine mächtige Bombe tötete 85 Menschen, 300 wurden verletzt. Der Sonderstaatsanwalt Nisman mühte sich ab seit 2004, dieses Attentat aufzuklären, und suchte die Schuldigen im Iran. Nachdem Nisman am 14. Jänner die Präsidentin, den Außenminister, Héctor Timerman, sowie vier weitere Personen der Vertuschung der iranischen Schuld angeklagt hatte, starb er vier Tage darauf durch einen Kopfschuss im Bad seiner Wohnung – und hinterließ ein entsetztes Land.

Als nach diesem Schock die jüdischen Verbände beschlossen, an dem von oppositionellen Staatsanwälten organisierten Schweigemarsch teilzunehmen, waren es ausgerechnet die jüdischen Hinterbliebenen der Amia-Opfer, die ebendas ablehnten. Alle drei Gruppen, die seit bald 21 Jahren für die justizielle Aufarbeitung kämpfen, blieben fern, weil sie politische Vereinnahmung befürchteten. Von Einigkeit war – wieder einmal – keine Spur in Südamerikas größter und vielschichtigster jüdischer Gemeinde.

Deren Geschichte geht zurück bis in die Anfänge der spanischen Colonia, als sich sefardische Kaufleute im 17. Jahrhundert am Rio de la Plata niederließen. Doch es sollte bis Mitte des 19. Jahrhunderts dauern, ehe die Gemeinde zu wachsen begann. Heute siedeln die meisten Nachfahren der „gauchos judíos“ im Großraum Buenos Aires. Mindestens vier Fünftel der etwa 230.000 Argentinier jüdischen Glaubens leben in und um die Metropole – und gehören dort zumeist der Mittelklasse an, auffällig hoch ist der jüdische Anteil unter Anwälten, Psychologen und Journalisten, mehr als die Hälfte der 50 einflussreichsten Medienleute ist jüdischer Herkunft. Aber anders als in Mexiko-Stadt oder São Paulo, wo fast alle jüdischen Familien zur ökonomischen Elite zählen, gibt es am Rio de la Plata auch jüdische Zeitungsverkäufer, Taxifahrer und Handwerker.

Ökonomische Unterschiede sind nur eine Trennlinie innerhalb der israelitischen Gemeinde von Buenos Aires. Dazu kommen ethnische und religiöse Differenzierungen: Etwa ein Fünftel sind sefardischer Abstammung, aber bei dieser Gruppe ist der Anteil der Orthodoxen wesentlich höher als bei den aschkenasischen Juden, deren Mehrheit gar nicht in die Tempel geht.

Der tiefste Spalt durch Argentiniens jüdische Gemeinde ist jedoch seit bald hundert Jahren ein politischer: Auf viele arme Einwanderer aus Osteuropa hatten die Ideen der sowjetischen Revolution erhebliche Wirkung. An der Formierung kommunistischer und sozialistischer Parteien und Gewerkschaften hatten Juden erheblichen Anteil. „Rusos y rojos“ war die damals übliche Doppelverunglimpfung für jüdische Kommunisten: „Russen und Rote“. Jahrzehntelang lebte eine linke jüdische Szene weitgehend getrennt vom Rest, mit eigenen Kulturzentren, Schulen, Sommerlagern. Während nach der Gründung des Staates Israel die Mehrheit der jüdischen Verbände Verbindungen dorthin und in die USA pflegten, blieb das linke Lager in Opposition zum Dachverband Daia.

Die mörderischen Militärs, die sich 1976 an die Macht putschten, griffen sich vor allem die linken Juden, die, so belegen mehrere Forschungsarbeiten, noch sadistischer gefoltert wurden als die anderen Opfer. Unter den 30.000 Todesopfern der Militärdiktatur waren 1900 jüdischer Abstammung, also mehr als sechs Prozent aller Opfer. Dabei lag der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung bei unter einem Prozent. Der jüdische Dachverband Daia wollte sich seinerzeit nicht mit den Judenhassern in Uniform anlegen, und Israel, das den Militärs Waffen verkaufte, setzte sich ebenso wenig für die erklärten Antizionisten ein. Der verzweifelten Mutter Frida Rosenthal, die 1976 versuchte, vom Dachverband Daia Hilfe bei der Suche nach ihrem verschleppten Sohn zu bekommen, wurde dort gesagt: „Das habt ihr nun davon, dass ihr eure Kinder nicht zionistisch erzogen habt.“

Alles, nur kein Held. Die Gräben, die solche Sätze rissen, sind kaum mehr zuzuschütten. Das Attentat auf die Amia und die Arbeit des vom Präsidenten Néstor Kirchner 2004 eingesetzten Sonderanwalts Nisman spaltete die jüdische Gemeinde aufs Neue. Sergio Burstein, der eine der drei Amia-Opfer-Gruppen leitet, sagte nach dessen Tod: „Ich habe Nisman oft getroffen. Am Anfang unterstützten wir seine Arbeit, doch dann kam es zu großen Differenzen.“ Nisman, Spross einer wohlhabenden jüdischen Familie, stand in engem Kontakt mit Geheimdiensten. Durch WikiLeaks drang nach außen, dass Nisman ständiger Besucher der US-Botschaft war, die dessen politisch erwünschte Ermittlungen gegen den Iran permanent anfütterte.

Horacio Verbitsky, Präsident des Zentrums für legale und soziale Studien und Leitartikler der linken Zeitung „Página/12“ sagt: „Wir erleben jetzt, dass Nisman zum Helden verklärt werden soll. Er ist sicher eine tragische Figur, aber alles andere als ein Heroe.“ Verbitsky gehört zu jenen linken jüdischen Intellektuellen, die in Kirchners „Memorandum der Verständigung“ mit dem Iran kein Spiel mit dem Feuer erkennen wollten. Die anvisierte gemeinsame „Wahrheitskommission“ mit den Behörden des Judenhassers Ahmadinejad hätte, argumentierte Verbitsky vor zwei Jahren, die verfahrenen Ermittlungen wieder flottmachen können. Doch das vom jüdischen Außenminister Héctor Timerman ausgehandelte Memorandum kam nicht zustande, weil Argentiniens Verfassungsgericht es verbot. Geklagt hatte der jüdische Dachverband Daia. Einigkeit ist woanders.

Fakten

Im 17. Jahrhundert kamen die ersten sefardischen Kaufleute an den Rio de la Plata.

Mitte des 19. Jahrhunderts begann die jüdische Gemeinde zu wachsen. Zunächst kamen Zuwanderer aus Frankreich und deutschen Landen.

Ab 1880 setzte ein immer kräftigerer Zustrom aus Osteuropa ein. Pogrome in Russland trieben ukrainische, bessarabische und ostpolnische Juden in die Flucht. Es war der in der k. u. k. Monarchie steinreich gewordene deutsche Baron Maurice Hirsch, der mit seiner Jewish Colonization Association tausenden Familien den Ausweg nach Amerika finanzierte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.03.2015)

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