Kindesmissbrauch: Die Opfer verachtet, die Täter geschützt

Rotherham, düstere Stadt
Rotherham, düstere Stadt(c) REUTERS
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Der Skandal um den Missbrauch von Kindern in Rotherham kam auch zustande, weil Polizei und Behörden aus Gründen der politischen Korrektheit die Täter nicht verfolgten.

Keine 300 Kilometer sind es von London nach Rotherham, doch gerne würde man in Großbritannien glauben, die Industriestadt in South Yorkshire liege auf einem anderen Planeten. Als der Skandal um Kindesmissbrauch 2012 aufflog, „waren wir der Abschaum der Nation“, sagt der 27-jährige Patrick. „Wir schämten uns, von hier zu sein“, ergänzt seine Freundin Nicole.

»Wurde der Skandal von Rotherham von den Behörden vertuscht?«

Die Industriestadt war jahrelang Schauplatz brutalsten Kindesmissbrauchs in unvorstellbarer Größenordnung. Von „rund 1400 Mädchen“, die allein im Zeitraum von 1997 bis 2013 vergewaltigt, misshandelt, geschlagen, gedemütigt, erniedrigt und für ihr Leben geschädigt wurden, spricht der Untersuchungsbericht von Alexis Jay von der University of Strathclyde in Glasgow. Die jüngsten Opfer waren elf Jahre alt.

In der Auswertung von 66 Untersuchungsakten liefert der Bericht grausame Details. Kinder wurden zu sexuellen Handlungen gezwungen, mit Drogen und Alkohol gefügig gemacht und dann in Abhängigkeit und Prostitution getrieben. „Was bin ich denn schon wert“, sagt ein Mädchen, das mit zwölf Jahren erstmals vergewaltigt wurde. „Ich wünschte, ich wäre längst tot.“

Angst vor der Rassenkarte

Was den Skandal von Rotherham noch schwerer zu verkraften machte, waren Enthüllungen, dass Polizei, Behörden und Politiker untätig blieben, obwohl Gerüchte über Kindesmissbrauch jahrelang die Runde machten. Mädchen, die Schutz suchten, wurden abgewiesen und „mit Verachtung behandelt“, heißt es im Untersuchungsbericht. Und die schweigende Mehrheit? „Nicht jeder will wirklich wissen, was vorgeht“, sagt Mary, eine 34-jährige Lehrerin.

Während Opfern mit Ver- und Missachtung begegnet wurde, konnten die Täter ihre Verbrechen praktisch ungehindert verüben. Die Opfer waren weiße Mädchen aus der Unterschicht, rund ein Drittel war behördlich bekannt. Die Täter waren Vertreter der pakistanischen Bevölkerungsgruppe von Rotherham. Zahlreiche Zeugenaussagen belegen, dass die Behörden nicht wussten, wie sie damit umgehen sollten: „Wir alle wissen, was passiert, wenn wir einen Täter verfolgen: Er spielt die Rassenkarte gegen uns aus“, sagt ein Polizeioffizier in einem zweiten Untersuchungsbericht, der im Februar zur Auflösung des Gemeinderats und der Verhängung der Direktverwaltung aus London führte.

Kommentatoren beeilten sich, „politische Korrektheit, die uns nicht mehr erlaubt, die Dinge beim Namen zu nennen“, für die Schande von Rotherham verantwortlich zu machen, wie es Naveen Judah, Leiter von Healthwatch Rotherham, einer Lobbygruppe, formuliert. Tatsache ist, dass nach offiziellen Angaben 33 Prozent aller Fälle von Kindesmissbrauch in Großbritannien von asiatischen Männern verübt werden, während sie sieben Prozent der Bevölkerung stellen. „Die Leute haben Angst, als Rassisten bezeichnet zu werden“, sagen Patrick und Nicole – und es gibt praktisch keinen weißen Gesprächspartner in Rotherham, der im Gespräch über die Vorgänge nicht irgendwann darauf zu sprechen kommt.

Politisch kann dies bei den Parlamentswahlen am 7. Mai zu einem Erdbeben führen. Seit mehr als 80 Jahren hält die Labour Party den Sitz in Rotherham, doch nun ist die Stadt eines der Hauptziele der rechtspopulistischen United Kingdom Independence Party (Ukip). „1400 Gründe, warum Sie Labour nicht mehr vertrauen können“, lautet ihr Slogan auf einem Plakat mit dem Konterfei eines jungen Mädchens.

„Labour hat uns alle im Stich gelassen“, sagt Thomas, der einen Frisiersalon mit dem ironischen Namen „Halsabschneider“ betreibt. Der 32-Jährige meint: „Ich bin kein Fan von Ukip. Aber vielleicht können sie uns ja positiv überraschen.“

Labour-Kandidatin Sarah Champion hat sich mit ihren Bemühungen um Aufklärung des Skandals profiliert. Doch sie räumt ein, dass sie einen schweren Kampf führt. „Es gibt viele in den eigenen Reihen, die versuchen, mich zu untergraben und die gegen mich kämpfen“, sagt sie. Die völlige Offenlegung ist vielen immer noch ein Dorn im Auge. „Ich bin sicher, dass die Vorfälle von Kindesmissbrauch weitergehen“, meint Champion. Von den Vorfällen aus dem Jay-Report ist bis heute kein Einziger vor Gericht gebracht worden.

Indes werden laufend neue Fälle bekannt, aus der Vergangenheit wie aus der Gegenwart. Im noblen Oxford ebenso wie im düsteren Rochdale, im Herzen der politischen Macht in Westminister und in Zentrum des kulturellen Establishments, in der BBC. Vom Liberaldemokraten Cyril Smith, der ein berüchtigter Pädophiler war und von Margaret Thatcher persönlich geschützt wurde, bis zum einstigen TV-Star Jimmy Savile, der sich sogar im Krankenhaus an wehrlosen Opfern verging, bis zu pakistanischen oder somalischen Gangs: Wenn es eine Gemeinsamkeit der Täter gibt, ist es ihr Gefühl der Unantastbarkeit und der absoluten Macht

Nation von Perversen

„Wir sind eine Nation von Perversen geworden“, meint die 76-jährige Pensionistin Joan vor der Markthalle von Rotherham, und John sagt: „Es ist nicht leicht, dieser Tage ein Brite zu sein. Was wir in Rotherham gesehen haben, war offenbar nur die Spitze eines Eisbergs. Es ist überall.“ Wie ist das möglich? „Wie konnte der Holocaust geschehen?“, erwidert John.

Die Markthalle und die Innenstadt von Rotherham spiegeln den Verfall der Stadt. „Wir hatten anständige Geschäfte und Banken“, klagt Ann, die Freundin Joans. „Und heute? Pfandleiher und Ramschläden.“ Nur die Kathedrale kündet von Pracht und Reichtum, als die Stadt in der industriellen Revolution mit Kohle und Stahl reich geworden war. Zum Gottesdienst ist die Kirche praktisch leer, doch am Platz davor rufen Ben und Wendy zur religiösen Umkehr auf („Ihr müsst Jesus in eure Herzen lassen“). Selbst bei ihnen spielt das Thema Fremde eine Rolle: „Wir kann es sein, dass wir 81 Sprachen in unserer Gemeinde sprechen und unsere eigenen Kinder auf der Straße schlafen müssen?“

Der Verfall einer Gesellschaft ist am schnellsten an äußeren Zeichen zu erkennen. Nur ein paar Schritte vom Zentrum Rotherhams ist das Viertel Eastwood. Die Straßen sind mit Abfällen übersät, die Hälfte der Häuser ist barrikadiert, aber nicht, weil sie unbewohnt sind. Hier ließen sich viele asiatische Einwanderer ab den 1950er-Jahren nieder. Die zweite Generation wuchs in einem Zwiespalt zwischen strenger häuslicher Tradition und den Verlockungen der Freiheit auf. „Wir haben keine multikulturelle, sondern eine tief polarisierte Gesellschaft“, meint Judah. Verlierer suchen sich zu bestätigen, indem sie brutale Macht ausüben. Wer ist schwächer als ein Kind?

Diese Gesellschaft leidet darunter, dass über sie gesprochen und geschrieben wird, während sie sich selbst nicht artikulieren kann – oder will. Der Muslim Council of Britain hat die Verbrechen scharf verurteilt. Aber erreichen diese Worte die Gemeinde? Während kaum ein Passant auf der „weißen“ Seite einem Gespräch aus dem Weg geht (und schnell beim Thema Rasse landet), steht man auf der „asiatischen“ Seite vor einer Wand des Schweigens: „Ich war nicht da“, „Davon habe ich nie etwas gehört“, „Ich spreche kein Englisch“, sind noch die umfassenderen Auslassungen. In der Moschee in der Ridge Road ist plötzlich keiner der Anwesenden aus Rotherham, sobald das Thema Kindesmissbrauch aufgeworfen wird.

Ein einziger Mann der pakistanischen Volksgruppe spricht unter Bedingung der Anonymität. Während er die Verbrechen als „abstoßend“ verurteilt, weist er jede Verantwortung seiner Gemeinde zurück: „Die Regierung hätte etwas tun müssen. Wir können schließlich das Gesetz nicht in die eigenen Hände nehmen“, meint der Ladenbesitzer.

Einen kleinen Laden führt auch Brian im Stadtzentrum. Er verkauft Ziergegenstände von Pölstern bis Bilder. Brian engagiert sich gegen die Polarisierung Rotherhams. „Es ist spürbar. Die Menschen begegnen sich mit Misstrauen, keiner traut mehr seinem Nächsten.“ Nach einem Marsch der rechtsradikalen English Defence League durch Rotherham, machten sich Brian und seine Mitstreiter daran, die Bierdosen der Nazis zu sammeln und einschmelzen zu lassen. Rotherham ist nicht umsonst eine Stahlstadt. Aus den Abfällen ließ Brian Herzen gießen, die er nun mit einer Aufschrift verkauft: „Love comes first“.

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Professor Alexis Jay arbeitete die Vorkommnisse um Kindesmissbrauch in Rotherham in einem Untersuchungsbericht auf. Dass die Verantwortung dafür nicht klar benannt wurde, habe ihr zufolge zur Katastrophe geführt.
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