Syrien: "Wir Christen stehen vor dem Exodus"

SYRIA RELIGION VATICAN
SYRIA RELIGION VATICANAPA/EPA/YOUSSEF BADAWI
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Von den Gotteskriegern des Islamischen Staats verfolgt, bemüht sich die Gemeinde im Nordosten des Landes dennoch, zu Ostern den Anschein von Normalität zu wahren.

Eine Musikkapelle am Flughafen, entlang der Straße Transparente, Fahnen, und schließlich stehen christliche Pfadfinder auf dem roten Teppich im Zentrum von Kamischli Spalier. „Willkommen in Ihrer Stadt“, heißt es für den Patriarchen von Antiochia, Mar Afram II.

Das Oberhaupt der syrisch-orthodoxen Kirche ist zum Osterfest aus Damaskus in den 680 Kilometer entfernten Ort im Nordosten des Landes gereist. Seit vielen Tagen ist der Empfang geplant und mit viel Mühe und Aufwand der Pfadfinder umgesetzt worden. Schließlich wird die Auferstehung Jesu gefeiert, neben Weihnachten das bedeutendste christliche Fest – und das will man sich auch mitten im Bürgerkrieg nicht nehmen lassen. Es ist ein Anlass, um Einigkeit und Stärke zu zeigen, ganz besonders in einem Moment, in dem die Zukunft der christlichen Gemeinde auf dem Spiel steht. Denn die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) richtet ihre Angriffe gezielt gegen Christen.

„Unsere gesamte Existenz ist in Gefahr“, sagt Ischow Gowrieh, der Vorsitzende der syrisch-christlichen Unionspartei (SUP). Wie groß die Bedrohung ist, machten die Massenentführungen der IS-Terroristen deutlich. Ende Februar hatten die Jihadisten eine Reihe von christlichen Dörfern in der Nähe des Chabur-Flusses im Nordwesten der Provinzhauptstadt al-Hasaka angegriffen und 277 Bewohner verschleppt. 19 von ihnen, meist Ältere und Kranke, wurden mittlerweile freigelassen. Aber das Schicksal der verbliebenen Geiseln ist immer noch ungewiss. „Sie versuchen, uns mit allen Mitteln aus unserer Heimat zu vertreiben“, behauptet Gowrieh. Die Terroristen würden das sehr erfolgreich machen. „Wir stehen vor dem Exodus“, fügt Gowrieh kopfschüttelnd hinzu und nimmt eine Zigarette.

Wobei die „Vertreibungspolitik“ keine Spezialität der IS-Terrormiliz sei, sondern charakteristisch für alle Jihadisten. „Sehen Sie“, beginnt der Politiker zu erklären, „wir wurden zuerst von islamistischen Rebelleneinheiten der Freien Syrischen Armee (FSA) angegriffen. Danach kam der al-Qaida-Ableger der Nusra-Front, und seit einem Jahr haben wir es nun mit dem schlimmsten aller Feinde zu tun, dem sogenannten Islamischen Staat.“ Für alle Freischärlergruppen ist die Region Dschasira wegen ihrer zahlreichen Ölquellen und der ertragreichen Landwirtschaft attraktiv. Zudem ist es ein strategisch wichtiges Grenzgebiet mit Zugang in die Nachbarländer Irak und Türkei.

Die meisten gingen. Vor Beginn des Bürgerkriegs lebten in der Region Dschasira im Nordosten Syriens rund 150.000 Christen. „Heute ist es nur noch die Hälfte“, erklärt Gowrieh mit leidvollem Blick. Die meisten Exilanten seien nach Europa geflohen, da sie dort als Christen leichter eine Aufenthaltsgenehmigung bekämen. „Noch haben sie ihre Häuser und ihren Grundbesitz nicht verkauft“, fährt der Parteivorsitzende fort. Aber sollten Krieg und Angriffe der Islamisten weitergehen, wäre es um die Zukunft der Christen geschehen. Syrien wäre dann das zweite Land im Mittleren Osten, in dem Christen ihre jahrtausendealte Kultur hinter sich lassen. Von den einstmals eineinhalb Millionen Christen im Irak sind zwei Drittel ausgewandert. „Dabei repräsentieren wir im Mittleren Osten die Kultur“, meint Gowrieh. „Wir haben sie in diese Region gebracht. Das ist unser Land und unsere Geschichte.“

Christliche Milizen. Der Besuch von Patriarch Mar Afram II in Kamischli ist alles andere als „politisch korrekt“ – jedenfalls in den Augen des syrischen Regimes. Er sollte schon einige Male früher zu Besuch kommen, aber das schien in Damaskus nicht schicklich. Denn Kamischli ist zur Hauptstadt von Dschasira geworden, dem größten der drei Kantone im autonomen Kurdengebiet im Norden Syriens. Hier haben die Truppen des Präsidenten Bashar al-Assad noch einige, wenige Basen, aber zu melden haben sie nichts. In Dschasira wurde eine basisdemokratische Regierung eingesetzt, die die Verwaltung übernahm. Für das Assad-Regime ist das ein Affront, gegen den es in der momentanen Situation nichts unternehmen kann. Eine zusätzliche, neue Front kann man sich nicht leisten. Die syrische Armee ist mit dem Krieg gegen Rebellengruppen ausgelastet genug – obwohl sie von schiitischen Kämpfern aus dem Irak, Afghanistan und dem Iran sowie der libanesischen Hisbollah unterstützt wird. Eine Konfrontation mit kurdischen und christlichen Milizen will man unter allen Umständen vermeiden. Auch Kurden und Christen verzichten darauf, das Regime zu bekämpfen. Man will Luftangriffe und damit zivile Opfer vermeiden. Solange die regimetreuen Truppen stillhalten, wird nichts gegen sie unternommen.

Hier in Norden Syriens, aber auch im Rest des Landes und im benachbarten Irak ist das Christentum weit mehr als eine Religion: Sie ist für die Menschen eine Identität. Sonst hätte man wohl als Minorität, die nur allzu oft in ihrer Geschichte verfolgt wurde, nicht über Jahrtausende überleben können. „Jesus ist auferstanden“, sagt man mit farbigen Ostereiern in der Hand. Wenn man die Schale bricht, heißt es dann: „Ja, Jesus ist wirklich auferstanden.“ Unter den syrischen Christen haben sich Rituale erhalten, die in Europa längst untergegangen sind. In Syrien nimmt man die christlichen Gebote und Gebräuche ernst und praktiziert sie. Die Fastenzeit vor Ostern ist ein fester Bestandteil im Leben der meisten Christen. 40 Tage lang wird kein Fleisch gegessen und auf Eier- sowie Milchprodukte verzichtet. Das Speisen von Fisch ist erlaubt, da er biblische Bedeutung hat. Fastenzeit bedeutet innere Reinigung und soll Besinnung bringen. Die Kirche hat ihren Mitgliedern kürzlich gestattet, nur die erste und letzte Woche zu fasten. Aber sehr viele haben dieses Angebot nicht angenommen und fasten weiterhin die volle Zeit.


Ostereier und -hasen. Am Gründonnerstag gibt es eine Messe in Gedenken an das Letzte Abendmahl von Jesus mit seinen Jüngern. Am Karfreitag wird zur Mittagszeit gebetet. Man marschiert mit Kreuz und einem Sarg durch die Kirche. Die Gläubigen gehen mit brennenden Kerzen nach Hause, kochen Ostereier und bemalen sie. Sie sind ein Zeichen für die Auferstehung Jesu. Ursprünglich sollen die Eier und auch der Osterhase Symbole der assyrischen und babylonischen Göttin Ischtar gewesen sein. Sie stand für Sex und Fruchtbarkeit. Mit der Christianisierung wurde Ostern zu einem christlichen Fest.

Am Samstag nach dem Kirchenbesuch wartet man auf das „Heilige Licht von Jerusalem“. Es soll eine sich jährlich an Ostern in der Jerusalemer Grabeskirche wiederholendes Wunder sein. Das heilige Feuer entzündet sich von selbst an dem Ort, an dem Jesus gekreuzigt und begraben worden sein soll. Nach der Ostermesse am Sonntag begrüßen sich die Besucher vor der Kirche und gratulieren sich gegenseitig zum Festtag. Später treffen sich die Familien im Haus der Eltern oder Großeltern zum Frühstück. Jetzt gibt es all das, was in der Fastenzeit verboten war: Käse, Butter und Wurst. Dazu gibt es Klischa, kleine Kuchen aus Reis und Milch, die extra für Ostern gebacken wurden. Zum Mittagessen gibt es Kalio. Das ist Rindfleisch, das zuerst gekocht und danach im eigenen Fett gebraten wird. Als Beilagen reicht man Reis und Bohnen.

Der Montag ist der Ruhetag der Verstorbenen. Nach der Kirche geht man auf den Friedhof, um der Toten zu gedenken. Früher nahm man eine Mahlzeit dorthin mit. Heute frühstückt man nach der Messe in der Kirche. Der Besuch auf dem Friedhof hat in Zeiten des Bürgerkriegs besondere Bedeutung. Die christliche Miliz des MFS und die Polizei Sotoro haben dieses Jahr die ersten Gefallenen im Kampf gegen die IS-Terrorgruppe zu beklagen. Familien, Freunde und Kämpfer werden an den Gräbern der Märtyrer diesen ihre Ehre und ihren Respekt erweisen.

Ausreise nicht erwünscht. „Hier bei uns werden die christlichen Traditionen noch gelebt“, sagt Behanan Hendo zufrieden im großen, prunkvollen Empfangssaal der Mar-Georges-Kirche von al-Hasaka. Er ist der syrisch-katholische Erzbischof. „Das ist ein großer Unterschied zu Europa, dort gibt es kaum mehr wahre Christen“, fügt er hinzu. Er habe viele Jahre in Italien und Frankreich gelebt, und wisse, wovon er spreche. „Nein, nein, in Europa gibt es kaum mehr Christen“, wiederholt er mehrfach. Hier, in der Herkunftsregion des Christentums, würden die Traditionen noch gelebt. Von der Ausreise so vieler Christen aus Syrien hält der Erzbischof wenig. Man könne sie verstehen, aber sie sollten besser in ihrer Heimat bleiben. Er selbst sei nach jeder Auslandsreise wieder froh nach Hause, nach Syrien zurückzukehren.

Wer zahlt, überlebt. „Wir sind eine Minorität“, fährt Hendo dann fort, „und müssen gerade heute mit anderen zusammenhalten. Denn wir sitzen alle in einem Boot.“ Der Erzbischof meint damit in erster Linie Kurden und Jesiden, die auf der Todesliste der IS-Extremisten stehen. „Die Barbaren wollen uns alle unterwerfen. Nur gemeinsam können wir ihnen trotzen.“ Wer nach dem Prinzip „Jeder für sich allein“ agiert, ist in Syrien verloren, betont der Geistliche. Dabei räumt er ein, dass Christen noch einen entscheidenden Vorteil hätten. „Die Terroristen würden die Kurden und Jesiden ohne Erbarmen ausrotten.“ Die Christen dagegen hätten eine Überlebenschance. Entweder konvertierten sie zum Islam, wanderten aus oder bezahlten eine Steuer, die Dschizya. „Ich kannte Christen in Rakka, die die Abgabe bezahlten und dafür von den Verbrechern verschont blieben.“ Sie konnten ganz normal jeden Tag zur Arbeit gehen. „Aber ein Leben unter IS-Kontrolle kann man nicht wirklich Leben nennen“, fügt Erzbischof Hendo hinzu. „Die Leute haben Rakka verlassen, sobald sie eine Möglichkeit dazu hatten.“ Denn man wisse nie, ob es sich die Terroristen nicht plötzlich anders überlegten.

„Trotz Krieg und Elend freue ich mich über Ostern“, sagt Gabriel Hanno, ein Computerspezialist, der in der neuen Regierung von Dschasira mitarbeitet. „Es ist ein Fest der Familie und der ganzen Gemeinde.“ Dieses Jahr habe Ostern nicht allein wegen der Angriffe der IS-Terrormiliz besonderen Stellenwert. „Es sind genau 100 Jahre seit dem Genozid an den syrischen Christen vergangen“, erklärt Hanno. Während des Ersten Weltkriegs wurden vom Osmanischen Reich zwischen 250.000 und 300.000 syrische Christen ermordet. Bis heute ist dieser Genozid, genauso wenig wie jener an den Armeniern mit mehr als einer Million Toten, von der Türkei anerkannt worden.

„Unsere Pfadfinder initiieren zu Ostern eine Kampagne, um auf den Völkermord der syrischen Christen aufmerksam zu machen“, erzählt Hanno. „Sie versuchen, möglichst viele Dreifingerzeichen weltweit zu sammeln.“ Das Dreifingerzeichen symbolisiert neben der Pfadfinderehre die Verpflichtung gegenüber Gott und die Hilfe für Mitmenschen. Die christlichen Pfadfinder mit ihren blauen Uniformen und bunten Schals sind an den Osterfeiertagen in Kamischli überall im christlichen Viertel auf den Straßen zu sehen.

Die Miliz hat keine Zeit zum Feiern. Für die Kämpfer der christlichen Miliz MFS gibt es dieses Jahr kaum Gelegenheit, Ostern im Kreis der Angehörigen zu feiern. Sie sind an der Front im Einsatz gegen die IS-Terroristen. „Letztes Jahr gab es eine Feier für die Soldaten“, sagt Kino Gabriel, der Sprecher des MFS. „Das muss an diesen Osterfeiertagen leider ausfallen, denn unser Hauptaugenmerk liegt momentan auf dem Kampf gegen den IS in den Dörfern am Chabur-Fluss.“ Sicherlich würden die MFS-Kämpfer etwas im kleinen Rahmen organisieren, aber nichts sei mehr mit früher vergleichbar.

Der Überfall und die Entführungen am Chabur-Fluss haben alles verändert, erklärt Kino Gabriel. Das Volk sei dadurch endgültig wach gerüttelt worden. Der Widerstand gegen die Barbaren des IS werde niemals enden „Wie Jesus auferstanden ist, werden wir Christen wieder auferstehen“, meint der MFS-Sprecher mit überzeugtem Ton. „Menschlichkeit und Liebe sind doch die Botschaft Jesus und die Botschaft des Osterfests, und sie wird siegen.“

Fakten

Rund zehn Prozent der 22 Millionen Syrer sind Christen. In den 1920er-Jahren sollen noch 30 Prozent der christlichen Minderheit angehört haben.

Die meisten Christen gehören den östlichen Kirchen an, die größte und älteste ist die griechisch-orthodoxe Kirche mit rund 500.000 Mitgliedern.

Hunderttausende wurden vertrieben oder haben das Bürgerkriegsland verlassen. Viele syrische Christen suchen in Europa Asyl.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.04.2015)

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