Italien: Politkrise wegen Flüchtlingsflut

Corigliano
Corigliano(c) APA/EPA/FRANCESCO ARENA (FRANCESCO ARENA)
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Mehr als 10.000 Bootsflüchtlinge seit Samstag, weitere Aussicht auf Eskalation und Bootsuntergänge mit hunderten Todesopfern schüren die Anti-Ausländer-Stimmung.

Die Explosion des Flüchtlingsstroms über das Mittelmeer treibt Italien an den Rand einer politischen Nervenkrise. Seit Samstag haben mehr als 10.000Menschen aus Afrika und Nahost auf Booten Sizilien bzw. Süditalien erreicht, viele mussten zuletzt von italienischen Kriegsschiffen und Hubschraubern gerettet werden.

Allein in Palermo kamen am Mittwoch mindestens 480 Menschen an, dazu 240 in Messina. Das für 250 Insassen ausgelegte Lager auf Lampedusa ist mit 1440 Menschen heillos überfüllt, weswegen die Luftwaffe eine Luftbrücke einrichten wird. Dazu kommen Berichte von NGOs, die unter Berufung auf Flüchtlinge behaupten, ein aus Libyen kommendes Schiff mit etwa 400 Menschen an Bord sei bereits am Sonntag gesunken. Die Suchaktion blieb bisher indes vergeblich.

Das vermischt mit der Vermutung, dass eine halbe bis eine Million Flüchtlinge in Libyen auf Überfahrt warten, dazu die eskalierende Gewalt von Schleppern (einige hatten ein Rettungsboot beschossen) – all dies bringt immer mehr Italiener in Rage: Anhänger Silvio Berlusconis wettern gegen die „Invasion“, an der die „mörderische“ Politik der linken Regierung Renzi schuld sei. Giovanni Donzelli, ein rechter Bewerber um die Präsidentschaft der Toskana, sagte, angesichts der Bedrohung durch Propagandisten des Islamischen Staats sei „Gastfreundschaft gegenüber solchen Leuten reiner Wahnsinn“.

„Kein Platz mehr“ in Norditalien

Der Führer der Lega Nord, Matteo Salvini, rief zur Besetzung „jedes Hotels, jeder Schule oder Kaserne“ auf, wo die Regierung Flüchtlinge unterbringen wolle. In einem Rundschreiben hatte das Innenministerium zuvor die Präfekten der Regionen aufgefordert, 6500 neue Plätze für Migranten aufzutreiben. Gleichzeitig wird der Streit zwischen den Regionen um die Verteilung der Flüchtlinge schärfer: Die kalabrische Hafenstadt Corigliano will sie nicht mehr an Land lassen; die von der rechtsextremen Lega Nord regierten Regionen Venetien und Lombardei haben verkündet, bei ihnen sei kein Platz mehr.

Heuer zählt Italien bereits über 20.000Ankömmlinge, das sind weit mehr als im Vergleichszeitraum 2014; in diesem Rekordjahr sind gesamt 170.000 Flüchtlinge nach Italien gekommen, nach Europa insgesamt rund 280.000. Dass die Stimmung im Land so hochkocht, hat weitere Ursachen. Etwa die Regionalwahlen Ende Mai, zu denen die Hälfte der Italiener aufgerufen ist. Lega-Chef Salvini betrachtet sie als Chance, angesichts der zerfallenen Berlusconi-Partei Forza Italia die Führung im rechten Lager zu übernehmen; mit einem rechtsextremen Wahlkampf spricht er niedere Instinkte der Italiener an und ist dabei, einen Rassismus zu schaffen, der dem Land bisher fremd ist.

Die Flüchtlinge bleiben jetzt wirklich da

Noch ein Grund: Die Flüchtlinge kommen jetzt tatsächlich in Italien an. Noch bis 2014 konnte man darauf zählen, dass die meisten untertauchten und sich über die Alpen nach Norden durchschlugen. Große Anstrengungen, wenigstens ihre Personalien festzustellen – nach der Dublin-Regelung ist das Ankunftsland für Unterbringung und Asylprozedur zuständig – unternahm niemand. Mittlerweile kann sich Rom diese Laxheit auch politisch nicht mehr leisten. Und da sich die Zahl der Asylanträge 2013/14 um 143 Prozent erhöht hat, heißt das, dass nun auch Italien möglichst viele Ankömmlinge dauerhaft selbst versorgen muss. Dem verweigern sich vor allem die nördlichen Regionen, jene im Stammgebiet der Lega Nord.

Die negative Stimmung hat sich bereits auch faktisch auf Ebene der Bürger bemerkbar gemacht: Seit Herbst und kürzlich wieder in Rom kam es zu ausländerfeindlichen Ausschreitungen. Bewohner eines Problemviertels am Römer Stadtrand etwa attackierten ein Heim für minderjährige Flüchtlinge.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.04.2015)

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