UNO befürchtet schlimmste Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer

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Beim Untergang eines Flüchtlingsschiffes vor Libyen könnten bis zu 700 Menschen ertrunken sein. Es wäre das "schlimmste Massensterben, das jemals im Mittelmeer gesehen wurde".

Vor der Küste der sizilianischen Insel Lampedusa hat sich in der Nacht auf Sonntag erneut ein tödliches Flüchtlingsdrama ereignet. Ein Flüchtlingsboot ist gekentert, die Einsatzkräfte befürchten bis zu 700 Todesopfer. Das UNO-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR sprach sogar von bis zu tausend Flüchtlingen, die an Bord waren. Nur 28 Menschen konnten bisher lebend geborgen werden. UNHCR spricht gegenüber italienischen Medien schon jetzt von einer Katastrophe, deren Ausmaß alle bisherigen Flüchtlingsdramen im Mittelmeer übersteigt. Sollten die Zahlen bestätigt werden, wäre es das "schlimmste Massensterben, das jemals im Mittelmeer gesehen wurde", sagte UNHCR-Sprecherin Carlotta Sami.

Seit Jahresbeginn sind bereits 26.566 Migranten in Italien eingetroffen. Das entspricht einem Plus von 30 Prozent gegenüber dem Vergleichszeitraum 2014. Bis Jahresende wird mit insgesamt 200.000 Flüchtlingen gerechnet.

Schiff setzte Notruf ab

Das Schiff setzte laut UNHCR in der Nacht zum Sonntag einen Notruf ab. Die italienische Küstenwache wies daraufhin einen portugiesischen Frachter an, seine Route zu ändern. Bei der Ankunft am Unglücksort sichtete die Crew den sinkenden Trawler. Das eigentliche Drama ereignete sich offenbar, als die rund Flüchtlinge an Bord sich bei dem Eintreffen des Frachters alle auf eine Seite des kenternden Schiffes drängten.

Das Schiff
Das Schiff "Gregoretti" bei der Suche nach den vermissten Flüchtlingen vor der Insel Lampedusa.(c) APA/EPA/ITALIAN COAST GUARD / HANDOUT (ITALIAN COAST GUARD / HANDOUT)

Die italienische Küstenwache und die italienische Marine leiteten eine groß angelegte Suche ein. 17 Schiffe, darunter zwei aus Malta, und mehrere Flugzeuge sowie Hubschrauber waren bei der Suche nach Überlebenden im Einsatz. Mehrere sizilianische Fischerboote eilten zum Unglücksort, um Hilfe zu leisten.

Sollte die Zahl der Todesopfer der neuen Flüchtlingstragödie im Mittelmeer bestätigt werden, würde die Zahl der im Mittelmeer ums Leben gekommene Flüchtlinge in diesem Jahr auf 1.500 steigen. Allein in der vergangenen Woche seien tausend Menschen im Mittelmeer ums Leben gekommen.

Reaktionen aus Österreich und der EU

Das Flüchtlingsdrama hat am Sonntag auch in Österreich für Reaktionen gesorgt. Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) sprach von einer "Schande für die Menschlichkeit". Es sei unerträglich, dass "immer wieder Menschen auf der Flucht nach Europa grauenvoll zu Tode kommen", so Faymann in einer Aussendung.

"Wir brauchen dringend gemeinsame, europäische Lösungen in enger Kooperation mit jenen Ländern und Regionen, aus denen die Menschen flüchten", ließ Faymann wissen. Man könne die Lage nicht länger hinnehmen, sowohl die EU als auch die nationalen Regierungen seien aufgefordert, sofort zu handeln. "Europa muss jetzt gemeinsam handeln. Wir werden jede Initiative zur Lösung dieses Problems unterstützen", erklärte der Bundeskanzler.

Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) forderte erneut die Einrichtung von UNHCR-Anlaufstellen für Flüchtlinge in Nordafrika. Ähnlich argumentierte FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache. Caritas-Präsident Michael Landau will hingegen "legale Einreise aus Armut".

EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini hat indes umgehende Maßnhamen der EU-Kommission angekündigt. In einer Dringlichkeitssitzung der Innen- und Außenminister der EU-Länder solle es vor allem darum gehen, mit den Herkunfts- und Transitländern daran zu arbeiten, die Flüchtlinge von der gefährlichen Reise über das Mittelmeer abzuhalten.

Frankreichs Präsident Francois Hollande telefonierte mit Premier Matteo Renzi. "Wir haben darüber beraten, wie wir rasch handeln können", sagte Holland laut dem französischen Sender "Canal Plus".

APA

"Das Mittelmeer ist zu einem Friedhof geworden"

Premier Matteo Renzi zeigte sich über das Unglück geschockt. "Täglich erleben wir ein Massaker im Mittelmeer. Wie kann man bei so viel Leid gleichgültig bleiben?", sagte der Regierungschef. Er berief für Sonntagnachmittag ein Gipfeltreffen mit mehreren italienischen Ministern in Rom ein.

Die Bürgermeisterin von Lampedusa, Giusi Nicolini, rechnet mit weiteren Tragödien. "Wer vor einem brennenden Haus flüchten muss, tut alles um sich zu retten. Das Mittelmeer ist zu einem Friedhof geworden und Italien ist sich selbst überlassen", sagte die Bürgermeisterin.

Der Papst hat beim Angelus-Gebet am Sonntag seinen "tiefen Schmerz" ausgedrückt. Franziskus rief die internationale Gemeinschaft zu entschlossenem Handeln auf, um weitere Flüchtlingstragödie zu verhindern: "Die Opfer sind Männer und Frauen wie wir, sie sind unsere Brüder".

Explosion des Flüchtlingsstroms

Sollte die Zahl der Todesopfer der neuen Flüchtlingstragödie im Mittelmeer bestätigt werden, würde die Zahl der im Mittelmeer ums Leben gekommene Flüchtlinge in diesem Jahr auf 1500 steigen, so UNHCR-Sprecherin Carlotta Sami. Im Gespräch mit dem TV-Sender Rai forderte sie die EU zu einem humanitären Korridor für Flüchtlinge auf, die nach Europa wollen. "Man muss verhindern, dass Migranten zu diesen gefährlichen Reisen gezwungen werden, bei denen tausende Menschen ums Leben kommen", so Sami.

Die Explosion des Flüchtlingsstroms über das Mittelmeer treibt Italien an den Rand einer politischen Nervenkrise.

Flüchtlingsdramen im Mittelmeer

April 2015: Vor der libyschen Küste kentert ein voll besetztes Flüchtlingsboot. Zunächst können nur 28 Menschen gerettet werden, die Einsatzkräfte befürchten bis zu 700 Tote. Erst wenige Tage zuvor waren laut Überlebenden 400 Menschen nach einem Unglück vermisst worden.

Februar 2015: Vor der italienischen Insel Lampedusa kommen möglicherweise mehr als 330 Flüchtlinge ums Leben. Mindestens 29 von ihnen sterben während der Überfahrt von Libyen nach Italien in kaum seetüchtigen Schlauchbooten an Unterkühlung.

September 2014: Nur zehn Menschen werden gerettet, als ein Boot mit angeblich mehr als 500 Migranten im Mittelmeer untergeht. Überlebende berichten, dass Menschenschmuggler das Schiff mit Syrern, Ägyptern, Palästinensern und Sudanesen auf dem Weg nach Malta versenkt hätten.

Juli 2014: Bei einer Flüchtlingstragödie vor Libyens Küste ertrinken mindestens 150 Menschen. Die libysche Küstenwache findet Leichen und Wrackteile eines Schiffes vor der Stadt Khums.

Oktober 2013: Mindestens 366 Flüchtlinge ertrinken bei Lampedusa. Ihr Boot fängt Feuer und kentert. Die Küstenwache kann 155 Menschen in Sicherheit bringen. Sie stammen überwiegend aus Somalia und Eritrea.

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(APA/Red.)

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