Bilge, Osttürkei: Wo man Ehre mit Blut aufwiegt

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Das Massaker im osttürkischen Dorf Bilge, bei dem Clans 44 Menschen von Verwandten ermordet wurden, schockiert die Welt. Wie tickt ein Land, in dem wegen »Ehrverletzungen« jährlich hunderte Menschen getötet werden?

Aufgewühlte Erde, darauf Nelken und weiße Grabsteine aus Beton. Mit ungelenker Hand sind Namen darauf gepinselt: „Yasemin“, „Veysi“, „Midi“, kein Datum, kein Nachname, außer gelegentlich ein „C.“ – für „Celebi“.

Es will einem nicht in den Kopf, was diese Woche im Dorf Bilge in der Südtürkei vermutlich im Namen der Ehre geschah: 44 Tote, 70 Waisen und Halbwaisen. Die mutmaßlichen Mörder lebten Haus an Haus, waren nahe Verwandte, die ihre Opfer von Kindesbeinen an kannten. Als möglicher Anlass für das Blutbad wird ein Streit genannt. Der ist aber 20 Jahre her. Außerdem gab es wohl Neid wegen eines Fischteiches. Kein Grund für diese Tat, jedenfalls kein Grund für uns.

Archaisches Denken

Das Verbrechen lässt sich nicht einfach erklären, hier spielen kulturelle, ökonomische und politische Dimensionen zusammen. Da sind archaische Begriffe von Ehre und Zusammengehörigkeit im Spiel. Dinge, unter die sich das Individuum zu ducken hat, ein Leben lang. So werden in der Türkei nach offiziellen Angaben 200 Frauen jährlich wegen „Ehrverletzungen“ ermordet.

Hinter vielen „Selbstmorden“ junger Frauen dürften Ehrenmorde stecken. Sei es, dass die Familie ihre Tochter zum Selbstmord gedrängt hat, sei es, dass es der Familie gelang, einen Mord als Selbstmord zu tarnen. Ehrenmorde gibt es in der ganzen Türkei, besonders häufig sind sie in Regionen im Osten, die auch für religiöse Strenge bekannt sind, wie Batman und Urfa.

Ehre hat mit Schuld nichts zu tun. Im Westen des Landes werden Ehrenmorde normalerweise in Familien begangen, die aus dem Osten gekommen sind. Die Herstellung der Familienehre „Namus“ hat dabei nichts mit dem Maß persönlicher „Schuld“ der Frau zu tun. Auch eine vergewaltigte Frau kann wegen „Namus“ ermordet werden.

Ebenso losgelöst von individuellem Verhalten ist die Blutrache. Nach einem Mord in einer Familie wird ein meist männlicher Verwandter aus der anderen Familie ermordet und so fort. In einer Gesellschaft, in der Ehrenmorde und Blutrache verbreitet sind, zählt ein Menschenleben wenig. Opfer und Täter verlieren ihr individuelles Gesicht.

Der Staat hat erst im Rahmen der Strafrechtsreform für die EU die bis dahin bestehende Strafmilderung für Taten aus gekränkter Ehre abgeschafft. Oft nimmt die Polizei die Befürchtungen betroffener Frauen aber nicht ernst genug. Langfristig hilft nur ein sich wandelndes Bild der Frau in der Gesellschaft. Für dessen Förderung ist aber eine Regierung, die selbst konservativen islamischen Werten verhaftet ist, nicht gerade der beste Garant.

Tödliche Macht für Bauern

Indes spielt auch die vom Staat eingerichtete Miliz der „Dorfschützer“ eine Rolle, und das nicht nur, weil der Staat zehntausende Bauern für den Kampf gegen die Kurden bis an die Zähne bewaffnete. Mit der Einführung des Dorfschützersystems in den 1980ern hatten viele Bauern nur zwei Alternativen: Dorfschützer werden oder gehen. Der Gouverneur über die östlichen Gebiete im Ausnahmezustand konnte Dörfer aus Sicherheitsgründen räumen lassen – und das waren natürlich meist jene Dörfer, die sich nicht der Miliz anschlossen.

Andere gingen, weil ihre Nachbarn nun bewaffnet waren und sie bedrohten. Der Staat brauchte die Miliz und sah weg. Außerdem gibt es ein Gesetz, wonach der, der längere Zeit sein Haus verlassen hat, sein Eigentumsrecht darauf verliert. Das fordert solche Landnahmen geradezu heraus.

Das Dorf Bilge war da keine Ausnahme: So musste angeblich Familie Akyüz 1989 gehen, als sich Großfamilie Celebi den Dorfschützern anschloss. Ihr Land und ihren profitablen Fischteich nutzten nun die Celebis.


Wer geht, verliert. Doch die Jahre vergehen, die Frauen gebären viele Kinder in Bilge, das Erbe muss vielfach geteilt werden. Warum dann nicht noch einmal versuchen, das Problem mit Raub zu lösen? Wo das Leben so wenig zählt, da nimmt man auch ein Massaker in Kauf. Nun gehen die anderen.

Auf Befehl der Gendarmerie haben die Angehörigen der Attentäter ihre zwölf Häuser in Bilge verlassen. Anders ließen sich umgekehrte Racheakte kaum vermeiden. Ihre Häuser und Felder gehen an die, die bleiben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.05.2009)

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