Die Flucht des Drogenbosses Joaquín „El Chapo“ Guzmán aus dem sichersten Gefängnis Mexikos stürzt das 120-Millionen-Einwohner-Land in tiefe Selbstzweifel.
Mexiko City/Buenos Aires. Mexiko hat ein Loch zu viel. Einen Durchbruch, der nie hätte gelingen dürfen. „Unverzeihlich“ hatte der Präsident vor einem Jahr den Fall genannt, dass der bestbewachte Häftling aus seiner Hochsicherheitszelle fliehen könnte. Nun ist „El Chapo“ weg: Er ist durch den Boden der Zelle geflohen, dem einzigen Punkt, den die Überwachungskameras nicht erfasst haben. An der Wand der Nasszelle lehnt noch die Duschtasse aus Porzellan. Daneben klafft, 50 mal 50 Zentimeter, dunkel und bodenlos wie die Geschichte des Ausbruchs, das Loch.
Dass der mächtigste Drogenboss Amerikas zum zweiten Mal der Haft entflohen ist, ist eine Pein für die aufstrebende Industrienation, eine Schmach für einen Präsidenten, der seinem Land ein neues Image geben will, und eine Schande für eine Justiz, deren sicherste Zelle im sichersten Hochsicherheitsgefängnis nicht sicher genug war, um Joaquín Guzmán Loera mehr als 504 Tage festzuhalten. Der Durchbruch in der Dusche von Zelle 20 ist „unser schlimmster Albtraum“, sagt der Historiker Enrique Krauze. Er ist ein Loch im Selbstverständnis der Vereinigten Staaten von Mexiko.
Video des „Unverzeihlichen“
Die Regierung von Präsident Enrique Peña Nieto ordnete Transparenz bei der Aufklärung an. So zeigte sie die letzten Bilder des Gefangenen Nr.°3578: Man sieht einen Mann, der auf und ab geht wie ein Raubtier im Zoo. Man sieht die Stahlgitter am Eingang des vielleicht sechs Quadratmeter großen Raums, Wasserflaschen, einen Tabletcomputer. Die Unruhe des Insassen entgeht der Aufmerksamkeit der Wachen, die Häftlingen (im Trakt mit permanenter Kameraüberwachung sitzen vor allem Capos der Kartelle) beim Nichtstun zusehen müssen. Er uriniert ins Klo, tritt hinter den Paravent, der die Dusche vom Rest der Zelle und den Kameras abschirmt, pendelt zwischen Dusche und Pritsche. Er bückt sich hinter der Sichtblende. Geht zum Bett, wechselt die Schuhe, steht auf, geht in die Dusche. Das ist der „unverzeihliche“ Moment: Joaquín „El Chapo“ Guzmán Loera, Boss des Sinaloa-Kartells, Massenmörder und Milliardär, verschwindet aus Trakt zwei des Altiplano-Gefängnisses. Die Zeitleiste des Videos zeigt: 11.Juli 2015, 20.52Uhr und 15 Sekunden.
Peña Nieto ist gerade guten Mutes nach Paris gereist, denn Ökonomen prophezeien Mexiko eine bessere Zukunft als dem Rest Lateinamerikas. Das 120-Mio.-Land könnte dank Teilnahme in der Nordamerikanischen Freihandelszone und niedriger Löhne vom Anziehen der US-Konjunktur profitieren. Aber die Nachricht von der Flucht holte das Land der großen Zukunft in seine Gegenwart zurück. Der Präsident ist in Paris geblieben, offiziell, da man sich von den Narcos nicht die Außenpolitik dirigieren lassen will. Inoffiziell, um ihn im dritten Amtsjahr vor Schaden zu schützen. So wie auch im vorigen September: Während die Ermordung von 42 Studenten Mexiko bewegte, setzte der stets perfekt frisierte Chef der Partei der institutionalisierten Revolution eine Asien-Tour fort.
Eine Belohnung von rund 3,8 Millionen Euro wurde nun ausgelobt, tausende Beamte sollen nach dem Flüchtling fahnden, ehe er seine „Sicherheitszone“ 1000 Kilometer im Nordwesten erreichen kann. Schafft „El Chapo“ es ins Grenzgebiet der Staaten Sinaloa und Durango, können es die Behörden sein lassen, denn dort regiert allein er.
„Sind hier alle Böden so dünn?“
Als Mexikos Sicherheitsbeauftragter Monte Alejandro Rubido und Abgeordnete Zelle 20 besichtigen, sehen sie fassungslos ins Loch, durch das Mexikos letzter Glaube in seine Institutionen verschwunden ist. Ein Mann hebt einen Betonbrocken auf, aus dem Boden gebrochen, als die Duschtasse von unten hochgestemmt wurde. Der Brocken ist vier Finger breit. „Ist das alles? Sind hier alle Böden so dünn?“
Das Centro Federal de Readaptación Social Número 1 El Altiplano wurde in den 1990er-Jahren für 836 Insassen gebaut, auf einer Hochebene im Westen der Hauptstadt. Zuletzt saßen 1038 Männer ein, Mexikos gefährlichste und reichste Verbrecher. Etwa Edgar Valdez Villareal („La Barbie“), der Auftragskiller der Gebrüder Beltrán Leyva und ihres Kartells. Oder José Abarca, der Bürgermeister, der 42 Studenten verschwinden liess. Über Dächern und Höfen sind Stahlseile, um Helikopter abzuhalten. 18 Türen, Schleusen und Gesichtserkennungssysteme muss man passieren, um zu „El Chapos“ Exzelle zu gelangen. Alles hatten die Architekten bedacht. Nur keinen Angriff von unten.
Dass man auch heute nicht daran gedacht hat, erstaunt. Denn nach der Verhaftung des „Kurzen“, das bedeutet „El Chapo“, hat die Polizei gesehen, dass der 2001 erstmals getürmte Boss unsichtbar zwischen zwölf Häusern in Culiacán, Sinaloas Hauptstadt, gependelt ist: Alle haben über Tunnel Anschluss an die Kanalisation, alle münden in Duschen. Und wer „El Chapo“ die Zelle im Erdgeschoß zugewiesen hat, hat übersehen, dass das Sinaloa-Kartell zu Mexikos aktivsten „Tiefbaufirmen“ zählt: Ingenieure und Arbeiter in seinem Sold gruben zig Schmuggeltunnel in die USA.
Viele lästige Fragen
Der Tunnel führte über zehn Meter in die Tiefe, darin eine Leiter, dann eineinhalb Kilometer zu einem Rohbau, belüftet, beleuchtet und mit Fahrzeugen versehen. Warum fiel der Neubau nicht auf, der begonnen wurde, kaum war Häftling Nummer 3578 eingeliefert worden? Sah keiner, dass von dort ständig Aushub weggebracht wurde? Wo blieben die 3250 Tonnen Erdreich? Woher hatten die Erbauer die Bau- und Lagepläne des Gebäudes?
Es sind lästige Fragen an einen Staat, dessen Regierung sich vorgenommen hat, das organisierte Verbrechen zu bekämpfen, indem sie nicht mehr darüber gesprochen hat.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.07.2015)