Ein jüdischer Exodus ins Gelobte Land

Alice Castiel fühlt sich an ihrem neuen Wohnort sicherer.
Alice Castiel fühlt sich an ihrem neuen Wohnort sicherer.(c) Susanne Knaul
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Immer mehr Juden aus Frankreich entscheiden sich wegen des wachsenden Antisemitismus für einen Umzug nach Israel. Dort beginnen sie ein neues Leben. Drei Schicksale.

Mit blau-weißen Fähnchen und dem Gesang von „Heweinu Schalom Aleichem“ nehmen Vertreter von Israels Integrationsministerium die Neuankömmlinge in Empfang. 200 Juden aus Frankreich landeten diese Woche auf dem Ben-Gurion-Flughafen bei TelAviv. Noch dort bekommen die neuen Staatsbürger Ausweis und Versicherungskarte, dann werden sie in ihr neues Leben entlassen.

Ashley Hadad wartet auf ihren Bruder. Sie selbst ist Ende vergangenen Jahres in Israel gelandet und unterhält seit ein paar Wochen gemeinsam mit ihrer Tante ein Restaurant in der Ussishkin-Straße von Netanja. Or HaKikar, so nennen die beiden Frauen ihren Laden, das „Licht am Platz“. Gemeint ist der direkt an der Strandpromenade gelegene Unabhängigkeitsplatz. Die 24-Jährige, die schon flott in der neuen Sprache plaudert, wenn auch mit vielen Fehlern und oft nach Worten suchend, hat sich, wie viele der französischen Einwanderer, für Netanja entschieden, die „Riviera Israels“.

„Seit ich 18 Jahre alt war, wusste ich, dass ich nach Israel kommen würde.“ Die zunehmende antiisraelische Stimmung in Frankreich ließe die Juden zu Sündenböcken werden. Sie selbst erlebte es an einer Tankstelle. Die junge Frau war mit ihrem Freund auf dem Motorrad unterwegs, als ein Mann, „ein Araber“, sein Auto auf die beiden zu lenkte und das Motorrad umstieß. „Er wusste, dass wir Juden sind.“ Wie eine Warnung habe das verschreckte Paar diese Machtdemonstration empfunden. „Ich dachte, wenn die das jetzt machen, ohne jeden Grund – was passiert dann erst, wenn es Probleme gibt in Frankreich oder in Israel?“


Alltagsschikanen. Ein Cousin und ein Onkel Hadads wurden auf offener Straße geschlagen. „Die Franzosen sind bescheuert“, schimpft die junge Frau. „Sie stehen immer auf der Seite der Starken.“ Einer nach dem anderen in ihrer Familie verließ Frankreich, nur die Eltern blieben. Als Hadad ihren Mann kennenlernt, rückt der letzte Schritt näher. Zusammen fällt der Umzug leichter. Die beiden packen ihre Sachen, ohne die Kosten für den Umzug einzufordern, die die Jewish Agency, die Einwandererbehörde, für sie tragen würde. Die Formalitäten regeln sie in Israel.

Tunesische Spezialitäten stehen auf der Speisekarte des Or HaKikar, Couscous, gegrilltes Fleisch, gefüllte Teigtaschen, Frittiertes – allesamt Gerichte, die Hadad aus ihrem Elternhaus kennt. „Es ist schon absurd“, gibt sie zu, „dass ich in Israel ein Restaurant mit nordafrikanischen Spezialitäten aufmache.“ Schließlich seien die Nordafrikaner in Frankreich diejenigen, die sie zum Weggehen brachten. „Ich weiß, was die französischen Juden gern essen.“ Sie strotzt vor Vertrauen in sich selbst und in die Kochkünste ihrer Tante. Nur ihre Freunde vermisse sie, und ein Auto und französische Schokolade. „Die Süßigkeiten hier schmecken wie Seife.“

Das Or HaKikar muss sich gegen die Konkurrenz am Unabhängigkeitsplatz durchsetzen. Es gibt Gelato Italiano, ein English Pub und das Scottsman Café, trotzdem ist nicht zu übersehen, dass hier die Franzosen den Ton angeben. „Oh là là“, wird es an einem Tisch im Scoop Café für einen Moment lauter, als der Kellner die Gäste gleich auf Französisch anspricht. Man wünscht sich „Bon appétit“ und trinkt schon mittags einen Rosé oder ein Glas Weißwein. Chez William verkauft Pommes frites und gegrilltes Huhn, und im Bistro daneben sieht die Speisekarte ganz ähnlich aus. Ein Schild mit der Aufschrift „Fermé le Samedi“ weist die Kundschaft darauf hin, dass das Geschäft am heiligen Sabbat geschlossen ist, schließlich sei es „kasher“, man hält sich an die religiösen Gesetze. Und man stellt sich auf die französischen Bedürfnisse ein. Jedes zweite oder dritte Geschäft rings um den Platz ist von einem „Immobilier“ belegt, der den Neuankömmlingen bei der Wohnungssuche hilft.

Harnof Haddock, der vor gut einem halben Jahr mit seiner Familie nach Israel kam, wollte unbedingt an den Strand ziehen. Von seinem neuen Heim im zweiten Stock eines modernen Wohnblocks aus kann er das Wasser sehen. „In Paris haben wir kein Meer“, sagt der 30-jährige Importunternehmer, der eine Kippa trägt, die Kopfbedeckung frommer Juden. „Wenn ich jetzt schon mal hier bin“, sagt er jovial und zahlt willig die umgerechnet 1500 Euro an Miete für 140 Quadratmeter in Wassernähe. Seine Arbeit als Importunternehmer kann er in Netanja genauso gut erledigen wie in Paris, er wickelt das Kundenservice per Computer und Internet ab. Sobald seine Hebräischkenntnisse ausreichen, will Haddock den Handel mit Alarmanlagen, Kameras und Überwachungssystemen, die er bislang „aus aller Welt nach Frankreich“ importiert, auch auf Israel erweitern.

Es klappt schon recht gut mit der neuen Sprache. Grundkenntnisse hatte Haddock aus der jüdischen Schule in Frankreich. An drei Vormittagen pro Woche besucht er einen Ulpan, eine Hebräischschule. „Ich will alles verstehen können und schneller lesen.“ Seine Kinder sind täglich bis 16 Uhr in der Krippe und im Kindergarten, trotzdem will Haddocks Frau, die gelernte Buchhalterin ist, nicht wieder arbeiten. Die Immigranten aus Frankreich gelten in Israel als reich, was Haddock für ein Vorurteil hält.

Gern wäre er schon früher nach Israel gekommen, doch seine Frau zögerte. Nach dem Anschlag auf die jüdische Schule in Toulouse, bei dem im März 2012 ein Lehrer und drei Schüler erschossen wurden, habe sie angefangen umzudenken. Besonders schlimm sei es im vergangenen Sommer geworden, als Israel und die Hamas im Gazastreifen Krieg führten. „Die Leute solidarisieren sich mit den Palästinensern“, sagt Haddock. Dazu kommt die „schlechte Wirtschaftslage in Frankreich. Viele haben keine Arbeit, und dann sehen sie, wie erfolgreich die Juden sind, da kommt Neid auf.“

Hassparolen. An einem Abend habe er selbst zum ersten Mal „richtige Angst bekommen“. Obschon er in Frankreich nie mit der Kippa auf die Straße ging, „wussten die Leute, dass ich Jude bin“. Schon tagsüber hatte es heftige Demonstrationen gegeben, die Polizei riet jüdischen Ladenbesitzern, ihre Geschäfte frühzeitig zu schließen. „In der Rue de la Roquette, dort ist eine Synagoge, waren viele Araber und auch schwarze Demonstranten, die ,Tod den Juden‘ riefen.“ Anschließend seien sich die Eheleute einig gewesen, Frankreich zu verlassen. Sie packten die Koffer, kündigten ihren Mietvertrag und zogen los. „Von der Entscheidung bis zur Ankunft in Israel sind keine drei Wochen vergangen.“

Die Familie landete weich. Haddocks Eltern haben nur hundert Meter von seiner neuen Wohnung entfernt ein Ferienappartement, in dem er mit seiner hochschwangeren Frau und zwei kleinen Kindern wohnen konnte, bis er die Wohnung mit Meerblick fand und die Möbel aus Paris eintrafen. Ausweis und neue Pässe beantragte er in Israel. Er gewöhnte sich schnell an die neue Umgebung, sagt Haddock. „Wenn du hier etwas durchsetzen willst, musst du laut werden, sonst kommst du nicht weit.“ Den höflichen Umgang der Franzosen vermisse er nicht. „Mir fehlt gar nichts“, sagt er forsch und schränkt dann ein: „Nur das Kino. In Paris haben wir uns jede Woche einen neuen Film angesehen.“

Die meisten Immigranten kommen mit ihren Familien, manche auch in kleinen Gruppen. Nach jedem Gewaltakt gegen Juden laufen die Telefonleitungen bei der Jewish Agency heiß. Das Attentat auf das französische Satiremagazin „Charlie Hebdo“ und die Geiselnahme in einem koscheren Supermarkt ließ die israelische Regierung die Budgets für Hebräischkurse und Informationsveranstaltungen der Jewish Agency aufstocken. Premier Benjamin Netanjahu nutzte die Gunst der Stunde und rief Frankreichs Juden dazu auf, nun die Koffer zu packen, um nach Israel zu kommen, „die Heimat aller Juden“ – was in Pariser Regierungskreisen auf großen Unmut stieß und auch die jüdische Gemeinde verprellte, obwohl sie gewöhnlich eng mit der Jewish Agency kooperiert.

Die französischen Juden sind in Israel leicht zu integrieren, denn fast alle waren schon einmal zu Besuch und können etwas Hebräisch. Viele Familien schicken ihre Söhne zum Religionsstudium an eine israelische Jeschiwa. Die Jewish Agency lädt außerdem jüdische Maturanten aus Frankreich mit dem Programm „Bac Bleu Blanc“ (Matura in Blau-Weiß) für eine Woche nach Israel. 70 Prozent der Absolventen wollen anschließend bleiben. Bei einem ähnlichen Programm für junge Amerikaner sind es nur 20 Prozent, die nach ihrem Schnupperbesuch in Israel einen Umzug für immer erwägen.

Fast jeden Tag ist Alice Castiel an der Pariser Dependance der Jewish Agency vorbeigelaufen, die in derselben Straße liegt, in der sie selbst vor einigen Monaten wohnte. Der Entschluss, nach Israel zu gehen, fiel der pensionierten Juristin nicht leicht. Die 72-Jährige ist elegant gekleidet und dezent geschminkt. Trotz ihres Alters und ihrer silbergrauen Haare zieht die aparte Madame die Blicke auf sich. „Wenn ich einen Laden betrete, heißt es oft: Ah, hier kommt die Französin.“ Castiel geht gern ins Café Pain aux chocolat in der belebten Herzl-Straße von Netanja. „Ganz so wie in Frankreich schmeckt das Croissant hier nicht“, sagt sie und gibt zu, „Baguette, französischen Käse und vieles mehr“ zu vermissen.

Vor einem halben Jahrhundert unternahm sie ihren ersten Versuch, nach Israel zu emigrieren, verbrachte ein Jahr bei ihrer Schwester im Kibbuz und entschied sich schließlich doch wieder für Frankreich. Der Beruf und das soziale Umfeld habe damals den Ausschlag gegeben. „Ich vermisse meine Freundinnen“, gibt sie zu, „die Sprache, Theaterstücke“, die sie ohne Probleme versteht, und natürlich Paris. „Paris“, schwärmt sie, „da gibt es einfach alles.“

Ausbruch. Eine ihrer beiden Töchter zog schon vor einigen Jahren mit vier Kindern nach Ra'anana, das rund 20 Kilometer südöstlich von Netanja liegt. Den Enkeln wieder näher zu sein spielte eine wichtige Rolle, aber das allein sei es nicht gewesen. „Es fing damit an, dass Leute auf der Straße ,Juden raus‘ riefen. So etwas hatte ich früher nie gehört.“ Besonders zermürbend empfand Castiel die Schikanen durch eine Nachbarin. „Es war eine Frau aus Algerien, die mir Haarbüschel auf den Fußabtreter legte, um mir zu zeigen, dass ich nicht länger erwünscht bin. Ohne Worte, ohne jemals etwas zu sagen.“ Vor einigen Monaten, so erzählt Castiel, sei sie beim Versuch, ihren Vertrag bei einem Telekommunikationsunternehmen von Frankreich auf Israel zu erweitern, ausgelacht und erniedrigt worden. „Die Frau in der Serviceabteilung fragte: Israel, wo ist denn das? Fahren Sie doch lieber nach Kanada!“

Irgendwann blieb Castiel vor dem Haus der Jewish Agency stehen und drückte auf die Klingel. „Ich wollte mich über meine Rechte erkundigen.“ Die Jewish Agency prüft den Grad der Jüdischkeit und die Ansprüche auf Unterstützung beim Umzug und der Integration. Eine jüdische Großmutter reicht für die israelische Staatsbürgerschaft. Weil sie früher schon in Israel lebte, gilt Castiel als Rückkehrerin und musste die Kosten für den Umzug selbst tragen. Drei Monate, nachdem sie den Antrag unterschrieben hatte, stand sie mit ihrem One-Way-Ticket nach Tel Aviv auf dem Flughafen Charles de Gaulle.

„Ich konnte einfach nicht mehr in Frankreich leben“, sagt Castiel. Sie will sich für einen Yogakurs einschreiben und vielleicht ehrenamtlich engagieren. „Wer weiß, vielleicht kommen meine Freundinnen aus Paris auch noch her“, hofft sie. Als würde sie sich selbst in ihrer Entscheidung bestätigen wollen, betont sie, dass es richtig war, die Heimat hinter sich zu lassen. Vor ein paar Wochen sei sie erst kurz nach Mitternacht aus einer Veranstaltung gekommen und habe kein Taxi gefunden. „Ich bin mitten in der Nacht den ganzen Weg allein nach Hause gegangen, ohne Angst zu haben.“ In Paris ginge das nicht. Dass sie in Israel „immer unter Juden“ ist, gebe ihr das Gefühl von mehr Sicherheit. Trotzdem bliebe eine Distanz. „In Frankreich sind wir die Juden und in Israel die Franzosen.“

fakten

Frankreich. Die Zahl westeuropäischer Immigranten hat sich in den Jahren 2012 bis 2014 vervierfacht. Die mit Abstand größte Gruppe kam aus der französischen Diaspora. Von 478.000 Mitgliedern der jüdischen Gemeinde in Frankreich gingen im vergangenen Jahr 7.231 nach Israel.

Europa.Aus Deutschland, wo heute 101.000 Juden leben, kamen 103 Immigranten, aus Großbritannien machten sich 627 der insgesamt 260.000 Juden auf nach Israel. Das Einwanderungsministerium erwartet in diesem Jahr einen Rekord mit 30.000 Zuwanderern aus aller Welt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.08.2015)

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