Indien: Kastenunruhen legen Gujarat lahm

(c) REUTERS (AMIT DAVE)
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Die Patels wollen als benachteiligte Gruppe anerkannt werden und so privilegierten Zugang zu öffentlichen Stellen erhalte. Massen-Demos endeten in wüsten Ausschreitungen.

Bangkok/Ahmedabad. Nach tagelangen schweren Unruhen war die Lage im indischen Bundesstaat Gujarat auch am Donnerstag angespannt. Soldaten und Paramilitärs patrouillierten durch mehrere Städte. In Teilen des Bundesstaates galten Ausgangssperren.

Die Ausschreitungen begannen, als die Polizei am Dienstag für kurze Zeit Hardik Patel festgenommen hat. Der 22-jährige Geschäftsmann führt seit einigen Wochen eine Kampagne an, die sich dafür einsetzt, dass die Patel-Kaste in Gujarat zu einer benachteiligten gesellschaftlichen Gruppe erklärt wird und, gemäß einem staatlichen Reservierungssystem, privilegierten Zugang zu Bildung und zu öffentlichen Stellen erhält. Seitdem sind mindestens acht Personen getötet worden. Randalierer setzten mehr als hundert Busse in Brand und legten Feuer in rund 40 Polizeistationen. Sechs der Getöteten wurden von Polizisten erschossen.

Die Ausschreitungen erinnern in frappierender Weise an die Unruhen in Gujarat von 2002. Damals sind bei Zusammenstößen zwischen Muslimen und Mitgliedern fanatischer Hindu-Gruppen mehr als 1000 Personen getötet worden, die meisten von ihnen Muslime. Indiens hindu-nationalistischer Premier Narendra Modi – damals Chief Minister Gujarats – konnte Vorwürfe, er habe damals bewusst zu wenig unternommen, um die Gewalt zu stoppen, nie ganz abschütteln.

Die Patels – oder Patidars – machen rund ein Viertel der etwa 63 Millionen Einwohner Gujarats aus und sind vergleichsweise wohlhabend. Viele von ihnen sind Geschäftsleute. Mitglieder dieser Kaste kontrollieren auch Gujarats Diamantenhandel.

Halbe Million bei Kundgebung

Die Anführer der Kampagne, die frühere Initiativen von Kastengruppen in anderen Bundesstaaten nachahmen, haben es sich zum Ziel gesetzt, Mitgliedern der Patel-Kaste den Zugang zu Hochschulplätzen und staatlichen Stellen zu ermöglichen, aus denen sie, wie sie sagen, ungerechterweise ausgeschlossen seien. Die Kampagne hat in den vergangenen Wochen immer mehr Zulauf bekommen. Am Dienstag versammelten sich in Ahmedabad, der größten Stadt des Bundesstaates, rund eine halbe Million Menschen zu einer Kundgebung. Von dort nahmen die Ausschreitungen ihren Lauf.

Indiens Reservierungssystem ist das älteste solche System weltweit. Es richtet sich vor allem an Mitglieder von zwei besonders stark benachteiligten Gruppen: die Adivasis, Indiens etwa 100 Millionen Ureinwohner. Sie leben vor allem in entlegenen Gebieten, die meist wirtschaftlich massiv unterentwickelt sind. Die Quoten für sogenannte registrierte Stämme sollen diesen Menschen dabei helfen, wirtschaftlich aufzusteigen.

Am unteren Ende von Indiens Kastenwesen finden sich die Dalits, vormals Unberührbare, die historisch die schmutzigsten und gefährlichsten Arbeiten verrichtet haben. Sie werden bis heute weiterhin vielfach diskriminiert. In dem Reservierungssystem werden sie als „registrierte Kasten“ geführt.

Die Maßnahme wurde erstmals in der Verfassung von 1950 festgeschrieben und sollte zunächst nur zehn Jahre lang in Kraft sein. Doch seitdem sind die Reservierungen alle zehn Jahre verlängert worden. Nicht ohne Grund: Wie die jüngsten Ausschreitungen zeigen, sind die Reservierungen längst zum Politikum geworden. In den 1980ern wurden weitere Gruppen hinzugefügt: Die sogenannten „anderen rückständigen Kasten“, denen rund ein Viertel aller Einwohner des Landes angehören, erhielten ebenfalls reservierte Sitze. In einigen Bundesstaaten werden aus politischem Kalkül heraus bis zu vier Fünftel aller Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst auf diese Weise vergeben. Dabei sollte die Obergrenze laut einem Urteil des Obersten Gerichts des Landes 50 Prozent der Stellen nicht überschreiten.

Kritiker machen das Reservierungssystem zumindest teilweise für den beklagenswerten Zustand von Indiens Bürokratie verantwortlich. Wenn man Jobs nicht nach Qualifikation, sondern gemäß einer Quotenregelung vergebe, falle es schwer, träge oder bestechliche Bürokraten zu entlassen.

Dazu kommt: Vielerorts pochen Mitglieder der niedrigen Kasten selbst – aufgrund der Reservierungen – auf ihren niedrigen sozialen Status und erhalten so auf gewisse Weise das diskriminierende soziale System am Leben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.08.2015)

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