„Hört nicht auf zu treten“: Amerika lernt Radfahren

(C) Oliver Grimm
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Immer mehr erwachsene Amerikaner nehmen Anfängerkurse im Fahrradfahren, um den täglichen Verkehrsstaus auf dem Weg in die Arbeit auszuweichen.

An einem sonnigen Samstagvormittag tun 13 erwachsene Amerikaner auf einem der gigantischen Parkplätze beim Robert-F.-Kennedy-Stadion in Washington zum ersten Mal in ihrem Leben etwas, was man normalerweise als Kind macht: Sie lernen, Rad zu fahren.

Wobei diese Gruppe von der mit Pedalkraft angetriebenen Fortbewegung auf zwei Rädern, die man landläufig als Fahrradfahren bezeichnen würde, noch weit entfernt ist. In dieser Anfängerklasse geht es zunächst um die simplen physikalischen Grundlagen des zweirädrigen Fahrens. „75 Prozent eurer Fähigkeit zu steuern kommt aus der Verlagerung des Körpergewichts, nicht von der Lenkstange“, weist Daniel, einer der fünf anwesenden Lehrer der Washington Area Bicyclist Association (Waba), seine Schülerinnen (zwei Drittel sind Frauen) und Schüler an. Die Pedale der Fahrräder sind fürs Erste noch abgeschraubt. Die Anfänger lernen, die Balance zu halten, während sie sich mit den Füßen vom Boden vorwärts abstoßen. „75 bis 80 Prozent der Teilnehmer können nach ungefähr drei Stunden Unterricht sicher in die Pedale treten“, sagt Daniel in einer kurzen Pause zur „Presse“. „In der nächsten Stufe führen wir die Leute dann vorsichtig an den Straßenverkehr heran. Und in der dritten Stufe machen wir gemeinsam eine Ausfahrt.“

Fünf Prozent sind nie im Leben geradelt

Anfängerkurse für erwachsene Fahrradnovizen gibt es in fast allen größeren amerikanischen Städten, die Nachfrage nach diesen steigt. Im Jahr 2014 haben allein an den rund 16 Washingtoner „Learn to ride“-Klassen der Waba rund 350 Menschen teilgenommen. Umfragen zeigen, dass rund fünf Prozent der Amerikaner nie in ihrem Leben auf einem Fahrrad gesessen sind. Das liegt vor allem daran, dass sich die städteplanerische Entwicklung in den Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg einzig um das Auto gedreht hat. Mit dem massenhaften Auszug der Mittelschicht in die neuen Vorstädte ging ein urbaner Lebensstil verloren, der es ermöglichte, zu Fuß in die Schule oder zur Arbeit zu gehen oder relativ gefahrlos dorthinzuradeln.

Mit dem wirtschaftlichen und kulturellen Erstarken der Stadtkerne in den vergangenen beiden Jahrzehnten hat sich diese Entwicklung zu wenden begonnen. Mehr und mehr Arbeitsplätze sind heute in den alten Stadtzentren statt in vorstädtisch verstreuten Businessparks zu finden. Doch die meisten amerikanischen Städte haben unterfinanzierte und darum schlechte öffentliche Verkehrssysteme, und wer täglich mit dem Auto zu pendeln hofft, verbringt im Großraum Washington, der auch Teile Marylands und Virginias umfasst, heutzutage oft drei Stunden pro Tag im Auto.

Somit erklärt sich der Ansporn von Fahrradschülern wie der 29-jährigen Hiwot, die vor zehn Jahren aus Äthiopien in die USA eingewandert ist. „Ich möchte gern mit dem Rad in die Arbeit fahren, denn der Verkehr ist entsetzlich“, sagt sie. „In Washington ist das Fahrradfahren ein Boom, eine Menge Leute wollen das lernen, weil die öffentlichen Verkehrsmittel nicht gut sind und es zu wenige Parkplätze gibt.“

Abhilfe gegen Verkehrsinfarkt

Mehr und mehr amerikanische Kommunen erkennen, dass das Fahrradfahren ihre Verkehrsnöte zumindest lindern kann. Der hier beschriebene Kurs wird zum Beispiel von Arlington County in Virginia subventioniert, somit kostet die Teilnahmegebühr nur zehn Dollar (neun Euro). Damit hoffen die Verantwortlichen auch, die Benutzung der öffentlichen Leihradsysteme sicherer zu machen. In Washington gibt es eines der ersten dieser „Bike share“-Programme in den USA, doch immer wieder kommt es zu schweren Unfällen, weil unerfahrene Benutzer das richtige Verhalten im Straßenverkehr nicht kennen.

„Ich sitze seit mehr als 30 Jahren zum ersten Mal auf einem Rad, seit ich als Achtjährige einen Unfall gehabt habe – nachdem meine Eltern die Stützräder abmontiert haben“, sagt Ann. Sie ist nach einer Stunde dieses Kurses die Erste, die selbstständig in die Pedale tritt. Lehrer Brian ist zufrieden: „Nicht aufhören, in die Pedale zu treten.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.10.2015)

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