Schweden: Vertreibung aus „Bettlerparadies“

Stockholm
Stockholm(c) Bloomberg (Johan Jeppsson)
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Bettelnde überall, das war lang unvorstellbar. Heute sind in Stockholm mehr Bettler vom Balkan als in den meisten Städten Europas. Doch die Stimmung schlägt um.

Stockholm. Der reiche Wohlfahrtsstaat Schweden streitet über ein bisher dort seltenes Phänomen: das Betteln. Anlass war die Zwangsauflösung eines slumähnlichen Lagers von Mitgliedern der aus Südosteuropa, meist Rumänien, zugezogenen Volksgruppe der Roma auf einem Privatgrund in Malmö.

Etwa 150 Menschen hatten sich Baracken gebaut. Die jüngst angeordnete Zwangsräumung aus eigentumsrechtlichen und hygienischen Gründen verdrängt seit Tagen in den Nachrichten die Meldungen über die Menschenmassen, die das Land aufnimmt. Viele Schweden aus der alternativen Szene hatten sich mit den Roma solidarisiert. Vor der Räumung war ihnen angeboten worden, sie fünf Tage gratis in Heimen unterzubringen, dann konnte jeder eine Busfahrkarte nach Rumänien bekommen.

Die Räumung wurde zur Symbolfrage im Umgang mit Bettelei. Immer mehr Bürger haben genug: Seit 2013 ist die Zahl von Bettlern etwa in Stockholm enorm gestiegen. Wer vom zentralen Bezirk Hornstull drei Minuten zur U-Bahn geht, zehn Minuten später am Karlaplan aussteigt und noch vier Minuten zum Ziel braucht, wird unterwegs oft von mindestens zehn Bettlern angesprochen.

„Das ist wie im Slum hier“

2013 auf 2014 verdoppelte sich laut dem Sender SVT die Bettlerzahl auf etwa 4100. Deutsche Touristen sind vom Straßenbild erstaunt: „Das ist wie im Slum hier“, hört man sie sagen. Die nationalistischen Schwedendemokraten sorgten im Sommer für Streit und Gegendemos, als sie in einer U-Bahn-Station Plakate gegen Bettler schalteten. Sie zeigten eine Bettlerin auf dem Boden sitzend, darüber stand in Englisch an Touristen gerichtet: „Sorry about the mess here in Sweden“.

Kaum ein Land ist so unerfahren im Umgang mit dem Phänomen. Früher gab es hier und da einen Obdachlosen. Man wusste aber, dass der Staat sie versorgte. Das gilt nicht für die Roma. Sie wurden lang recht freundlich aufgenommen, Schweden sind Bettlern gegenüber nicht so abgebrüht wie etwa Franzosen und Spanier. Ladenbesitzer lassen Bettler herein, wenn es zu kalt wird, und versorgen sie mit Sachen. Hilfsorganisationen bieten ein dichtes Netz aus Verpflegungen und Schlafplätzen. Die Heimreise wird oft von Gemeinden oder anderen Stellen bezahlt, die Polizei muss Übergriffe auf Bettler scharf verfolgen: Betteln ist hier Menschenrecht. Passanten grüßen freundlich zurück, wenn man ihnen „Hej, hej!“ in der Hoffnung auf ein paar Groschen zuruft. Also gab es im rumänischen Fernsehen bald einen Beitrag, in dem es einleitend hieß: „Schweden scheint das neue Paradies für Bettler aus Rumänien geworden zu sein.“

Unterdrückter Ärger

Doch viele Schweden erdulden das auch gemäß der nordisch-kontrollierten und politisch korrekten Mentalität mit der Faust in der Tasche. Ladenbesitzer wagen nicht, Bettler wegzuschicken, da man ihnen Rassismus und Herzlosigkeit vorwürfe. In Medien war es tabu, bloß zu erörtern, inwiefern Bettelei von Banden organisiert wird, die Bettlern das Geld abnehmen. Angeblich sollen fast 100 Euro pro Person und Tag machbar gewesen sein. Heute hört man von niedrigeren Summen. „Viele Bettler sagten uns, dass Schweden sie besser behandeln als etwa Franzosen oder Italiener“, erklärte Ann Wedin vom Roten Kreuz der „Presse“. „Aber jetzt verdienen viele weniger.“ Es seien sogar schon weniger Bettler. Mahnungen von Spitzenpolitikern der Volksparteien, nichts zu geben, hätten zum Stimmungsumschwung beigetragen.

Der Ton ändert sich. So sagte der ob der großzügigen Flüchtlingsaufnahme in Kritik geratene sozialdemokratische Ministerpräsident Stefan Löfven zum Abriss der Baracken in Malmö, die Migranten lägen „nicht in Schwedens Verantwortung“. Schon diskutiert man offen Bettelverbote. Das wäre noch vor einem Jahr politischer Suizid gewesen. Außer für Vertreter der Schwedendemokraten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.11.2015)

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