Wie ein Christ in der IS-Hauptstadt überlebte

Kämpfer des IS in ihrer Hochburg Raqqa
Kämpfer des IS in ihrer Hochburg Raqqaimago/ZUMA Press
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Ein Syrer schildert die Schreckensherrschaft des Islamischen Staats in Raqqa.

Am Anfang zahlte er „Blutgeld“: 5000 Euro gab er den Schergen der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) damit sie ihn, den Christen, am Leben lassen. Doch nach einem Monat hätten die Jihadisten in den Moscheen der Stadt angeordnet: „Alle Christen sind zu töten.“ Eine Nacht lang schlief er bei einem muslimischen Freund. Dann schlug er sich nach Aleppo durch. Nun sitzt er in Zahlé, Libanon – und erzählt von der Schreckensherrschaft, die der IS in seiner Heimatstadt Raqqa in Zentralsyrien errichtet hat.

„Ich sah, wie ein Mann zu 40 Peitschenhieben verurteilt wurde, weil er sich eine Zigarette angezündet hatte. Dabei rauchen die Jihadisten doch selbst.“ Einen anderen hätten die IS-Leute geköpft. Frauen durften nicht mehr allein auf die Straße gehen, sagt er. Das Tragen von Mobiltelefonen war untersagt, Handyfotos mussten gelöscht werden. Der Christ rasierte sich seinen Schnauzer ab und ließ sich dann einen Vollbart wachsen, wie ihn die Schergen der Terrormiliz IS tragen. Er wollte in Raqqas Straßen nicht auffallen. Seinen 19-jährigen Sohn nahmen sie zweimal fest, erzählt er. Wegen des Verdachts, Christ zu sein. Eine Lüge rettete ihm das Leben. Er sagte das islamische Glaubensbekenntnis auf, rezitierte Koranverse. Also ließen sie ihn laufen.

Die IS-Schergen in seiner Heimatstadt kämen „zu zehn Prozent aus Europa, zu einem Drittel aus der Türkei, ein weiteres Drittel ist aus Pakistan und Tschetschenien“, schätzt der Syrer. Der Rest seien Saudis: Sie würden den Ton angeben, wären gnadenlos. Mit den Europäern – er erinnert sich an Italiener und Franzosen – könne man noch am ehesten reden.

Geisel der IS-Terroristen. Auch Sergon ist den IS-Jihadisten entkommen. Er stammt aus der nordöstlichen Provinz al-Hasakah. Der IS überrannte dort im Februar mehrere Dörfer assyrischer Christen – und nahm auf einen Schlag mehr als 200 Geiseln. Nach und nach werden sie seither gegen Lösegeld freigekauft.

Auf Sergon kamen sie auf einem Markt zu. Er verkaufte Getränke. „Hast du Alkohol oder Zigaretten?“, fragten ihn die Terroristen. Er verneinte. Dann die nächste Frage: „Bis du Christ?“ Sergon wollte nicht lügen. Zwei Monate war er in den Fängen des IS. Er will gehört haben, wie sie ihre Messer für die anderen Gefangenen geschliffen haben. Gefoltert wurde er nicht. Am Ende zahlte er Lösegeld. 10.000 Euro.

Wer Sergon fragt, ob das Christentum in der Region eine Zukunft hat, blickt in ein ratloses Gesicht. Der Syrer erinnert sich an einen der regionalen IS-Anführer: „Er hat zu mir gesagt: ,Alle Christen sind Terroristen.‘“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.12.2015)

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