Zika: Wenn ein Virus töten lässt

Rosana Vieira Alves fixes the hair of her 4-month-old daughter Luana Vieira, who was born with microcephaly, at their house in Olinda
Rosana Vieira Alves fixes the hair of her 4-month-old daughter Luana Vieira, who was born with microcephaly, at their house in OlindaREUTERS
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Die Zika-Epidemie bringt einen Kontinent auch in moralische Not: In Lateinamerika ist Abtreibung ganz oder weitgehend illegal. Doch was, wenn Föten im Mutterleib dadurch geschädigt sind?

„Sie wird nicht gehen können, und sie wird nicht sprechen. Mit der Zeit wird sie in einen vegetativen Zustand eintreten und sterben.“

Der Arzt, der Ana Carolina Cáceres zur Welt brachte, hatte wenig Ermunterung für ihre Eltern übrig. Die Stirn des Babys war eingedrückt, der Kopf kleiner als bei gesunden Kindern. Doch heute, nach 24 Jahren Kampf, Operationen und medikamentösen Therapien, hat die Frau aus der brasilianischen Stadt Campo Grande einen Uni-Abschluss in Journalismus, spielt Violine und schrieb ein Buch über ihre Vita und die fünf weiterer Personen, die studieren, arbeiten und normale Dinge tun, obwohl sie mit Mikrozephalie zur Welt kamen. Cáceres sagt: „Wir leben, weil unsere Eltern beschlossen, nicht abzutreiben.“

Brasilien, das derzeit Not hat, die Auswirkungen des von Mücken übertragenen Zika-Virus einzudämmen, muss sich nun auch auf eine Ethikdebatte einstellen. Bisher lehnten die Bürger des größten katholischen Landes eine Aufweichung der restriktiven Abtreibungsgesetze ab. Laut Umfrage der Meinungsforschungsfirma Datafolha waren im Dezember 67 Prozent der Befragten gegen eine Änderung der Gesetze. Doch nun, da zika-infizierte Frauen immer mehr Babys mit Mikrozephalie gebären – zuletzt zählte man fast 5000 Fälle, mehr als 430 davon sind bestätigt – und das Virus in 25 Ländern der Region registriert wurde, beginnt im südlichen Amerika die Diskussion über das Tabuthema Abtreibung.

Illegal geht alles. Derzeit erlauben das nur Uruguay, Kuba, Guyana und Französisch-Guayana. Einige Staaten, etwa Argentinien, Mexiko, Kolumbien und Venezuela, dulden „abortos“ nach Vergewaltigung oder bei Lebensgefahr für die Mutter. In sieben Ländern (in Chile, Honduras, Haiti, El Salvador, Nicaragua, der Dominikanischen Republik, Surinam) gibt es keinen legalen Weg. Aber viele illegale: Mehr als vier Millionen Kinder würden jährlich in Lateinamerika und der Karibik abgetrieben, so das New Yorker Guttmacher Institute, das sich auf Familienplanung spezialisiert hat. Von 1000 Frauen zwischen 15 und 44 Jahren beenden in der Region 32 im Jahr ihre Schwangerschaft vorzeitig. 95% der Eingriffe finden unter unsicheren Umständen statt, darum müssten jährlich 760.000 Frauen wegen Komplikationen in Kliniken.

Und: Das Problem betrifft meist Arme. „In Brasilien ist Abtreibung möglich. Wer Geld hat, kann das machen lassen, und unter akzeptablen Konditionen“, sagt Drauzio Varella, ein bekannter Arzt. Diskrete Abtreibungskliniken nehmen umgerechnet 1200 bis 3600 Euro. „Alles andere ist Heuchelei“, fügt der TV-Doktor an, mit Verweis auf parteiübergreifende Anti-Aborto-Fraktionen in den Parlamenten und die Predigten katholischer Priester und evangelikaler (TV-)Pastoren. „Für Reiche gelten andere Gesetze“, assistiert Olímpio de Moraes, Gynäkologe und Professor an der Uni des Staates Pernambuco, wo bisher die meisten Gehirnschäden nach Zika diagnostiziert wurden.


Rat an Frauen: Enthaltsamkeit! Wie andere Regierungen Lateinamerikas hat auch jene Brasiliens Frauen Enthaltsamkeit empfohlen, bis die Epidemie durch allgemeine Immunisierung abebbt. Doch das ist ein absurder Vorschlag in einer Weltgegend, wo jede zweite Schwangerschaft ungewollt ist. Wo es an Verhütungsmitteln ebenso wie an der Pille danach mangelt, die in Brasilien laut Gesetz gratis sein müsste. Zudem sind in der Heimat des machismo Sexübergriffe normal. gegenüber Datafolha gaben im November 52 Prozent der befragten Brasilianerinnen an, Opfer sexueller Übergriffe zu sein.

Nach einer Vergewaltigung dürfen Schwangerschaften bis zur 20. Woche beendet werden. 2012 entschied der Oberste Gerichtshof zudem, Abtreibung Ungeborener zu gestatten, denen erhebliche Teile des Gehirns fehlen und die keine Überlebenschance außerhalb des Mutterleibes besitzen.

Die Klage, die das Gericht zu der Ausnahme bewegte, hatte Anis erhoben, ein laut Eigendefinition „feministisches Institut für Bioethik“. Anis will beim Höchstgericht beantragen, Abtreibungen auch zu erlauben, falls der Fötus Mikrozephalie-Symptome aufweist. Debora Diniz, Anthropologin und Anis-Aktivistin, meint, der Staat sei schuld an der Verbreitung des Virus, da er bei der Bekämpfung des Überträgers versagt habe. In der Tat sagte Gesundheitsminister Marcelo Castro, der seit Jahrzehnten geführte Krieg gegen die Aedes-aegypti-Mücke sei verloren. Diniz will Gerechtigkeit: Ein Staat, der Reiche folgenlos abtreiben lasse, müsse das auch der armen Mehrheit erlauben.

Giftstich ins Herz. Doch die Forderung wirft ethische Fragen auf. Mikrozephalie ist nicht sicher vor der 28. Schwangerschaftswoche erkennbar. Eine Abtreibung in diesem Stadium muss mit einer Injektion ins Herz des erheblich entwickelten Fötus eingeleitet werden. Ist das mit dem medizinischen Eid vereinbar? Der Staatsanwalt und Abtreibungsgegner Paulo Leão argumentiert, eine Tötung von Föten mit Mikrozephalie oder anderen Defekten sei „Eugenik, also Selektion zwischen lebenswertem und unlebenswertem Leben“.

Dennoch ließen Frauen Abtreibungen zu, nach der Mikrozephalie-Diagnose, erfuhr die Zeitung „Folha de São Paulo“ – auch verursacht durch in den USA und Brasilien publizierte Diagnosen von Mikrozephalie-Babys nach Ausbruch von Zika. Offenbar sind die Hirnschäden auch schwerer als bei früheren Betroffenen wie der geheilten Journalistin Cáceres. Der Neonatologe Thomas Gallop von der Uni São Paulo empfiehlt daher einen neuen Begriff: „fetales Zika-Syndrom“. Symptome: „Erhebliche Schädigungen des Nervensystems, Taubheit, Blindheit, ohne Perspektive auf Heilung oder Besserung.“

Lexikon

Zikaviren sind im weitesten Sinn mit den Erregern des Gelbfiebers verwandt und wurden 1947 im Zika Forest in Uganda in Affen isoliert. 1952 fand man sie in Uganda in Menschen. Seither tauchten sie in weiteren Ländern der äquatornahen Region auf, etwa in Äthiopien, Thailand, Indien, Indonesien. Seit 2007 gab es mehrere größere Ausbrüche in Staaten des Südpazifiks, etwa in Mikronesien, auf den Cookinseln, in Vanuatu oder
Französisch-Polynesien.

Medizinisch verläuft eine Infektion meist unbemerkt oder ohne größere Symptomatik, erschöpft sich großteils in Fieber, Kopfweh, Ausschlag, eventuell Erbrechen. Seit das Virus im Vorjahr aber Lateinamerika erreicht hat, wird eine enorme Zunahme von Mikrozephalie bei Neugeborenen bemerkt, deren Mutter als Schwangere an Zika erkrankt war. Bei Mikrozephalie sind Kopf und Gehirn unterdurchschnittlich entwickelt, die Kinder oft behindert. In Brasilien gab es früher im Schnitt 200 solcher Fälle pro Jahr; allein seit Oktober 2015 sind es nun aber mehr als 5000 Verdachtsfälle, davon mehr als 430, bei denen ein Zikainfekt der Mutter vorausgegangen ist.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.02.2016)

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