Das kranke Haus

Buenos Aires
Buenos AiresEnrique Marcarian
  • Drucken

Es sollte die größte Klinik Südamerikas werden, stattdessen entstand ein Notquartier für Hoffnungslose. Eine junge Familie erzählt vom Leben im "weißen Elefanten" von Buenos Aires.

Die Avenida Luis Piedrabuena ist eines der Ziele, zu dem kein Taxifahrer fahren will. Ein breites Asphaltband, wo Buenos Aires ausfranst in arme Viertel und Armenviertel. Der Viehmarkt liegt in der Nähe, das Schlachthausquartier. Über die Avenida dieseln Busse, auf dem Grünstreifen haben sich Reifenflicker eingerichtet, eine Mutter führt zwei Kleinkinder über zerfurchtes Trottoir, entlang eines rostigen Zauns aus mehr Löchern als Maschengeflecht. In einer Gasse ein Posten der Gendarmerie.

Die Wintersonne vermag keine Wärme zu spenden, aber vergießt gnädiges Licht über das, was als Szenerie für einen Endzeitfilm taugt. Er schimmert grau, der „weiße Elefant“. „Elefante blanco“ nennt man in Argentiniens Hauptstadt den riesigen Monolithen, der schon 70 Jahre sinnentleert über dem Südwesten der Metropole thront. Dessen modernistische vierzehnstöckige Fassade noch die Kraft der neuen Welt verströmt, die einst Millionen Europäer anzog und auf Wohlstand hoffen ließ. Und dessen hohle Fenster das Platzen der Träume bezeugen. Der Plan, hier Lateinamerikas größtes Spital zu bauen, scheiterte wie das Projekt, Argentinien als gesunden Staat zu etablieren. Die Geschichte des „Elefante blanco“ handelt von sozialer Gerechtigkeit und politischer Willkür, Obdach und Ungeziefer, Kinderspielen und Verwesung, Solidarität und Drogen, Aufbruch und Siechtum. Es ist die Geschichte eines Slums im Slum, eines Heims für Hoffnungslose. Eines Hochhauses mit zwei Namen: Als „Elefante blanco“ kennt es die Außenwelt. Lola und Jonatan nennen es „hospitalito“ – Krankenhäuschen.

Lola Saravia und Jonatan Carmona spielten als Kinder in dem Rohbau. Sie gründeten ihre Familie im Erdgeschoß. Sie bangten um ihr Baby. Kämpften mit Ratten und Mücken. Verputzten Wände, fliesten Böden, legten Kabel. Sie schufen gar Eigenkapital an diesem Unort. Jonatan sagt: „Dieses Gebäude hat Hunderte Geschichten.“

Ausschlachten des „Elefanten“. Beginnen wir mit der offiziellen: Um 1820 beschloss die Stadtverwaltung, ein Lungensanatorium einzurichten fern der Stadt. Erst 1938 begannen die Arbeiten, bald ging das Geld aus. Unter Präsident Juan Domingo Perón wurde weitergemacht mit dem Ziel, Lateinamerikas größtes Spital zu errichten. Der „Volkspräsident“ hatte die Gesundheit zum Grundrecht erhoben und das Sanitätswesen für kostenfrei erklärt. Als konservative Militärs 1955 putschten, lösten sie die Baustelle auf. Zurück blieb ein Rohbau ohne Fenster, Türen, Leitungen für Wasser und Strom. Rundum hatten sich arme Zuwanderer angesiedelt. Sie begannen, den „Elefanten“ auszuweiden. Heute breitet sich hinter der Ruine die „ciudad oculta“ aus. Den Namen bekam der Slum, als die Militärs 1978 eine Mauer bauten, um die Misere vor den Gästen der Fußball-WM zu verstecken.

Als die Junta 1983 abdankte, war Argentinien ausgeblutet. Die Wirtschaft am Boden, die „verborgene Stadt“ wucherte in das Gemäuer, es wurde zu dem, was Akademiker vertikalen Slum nennen. Im Raum Buenos Aires leben 14 Millionen Menschen, um eine Million wuchs er von 2001 bis 2010, während des Soja-Booms. Die industrialisierte Landwirtschaft vertrieb Hilfsarbeiter und vergiftete die Parzellen kleiner Bauern. So schwoll auch die „ciudad oculta“ weiter an. Und so nisteten sich 120 Familien im „weißen Elefanten“ ein, obwohl es im barrio hieß, in dessen Mauern hausten Gespenster.

„Es war ein Abenteuerspielplatz“, sagt Jonatan, 27, gekleidet in ein Trikot der Boca Juniors, Trainingshose, Turnschuhe. Früher stieg er aufs Dach und tobte im Sommer in den Wassertanks. Auf den Terrassen spielten sie Fußball und in den Obergeschoßen Guerilla – Steine gab's genug zu werfen. Ein Freund stürzte in einem Aufzugsschacht sieben Stockwerke ab. Süchtige ersoffen in den Tanks, Graffitisprayer stürzen aus dem zehnten Stock, man fand ein totes Mädchen in einem Kühlschrank.

Heute kontrolliert das Gemäuer ein „puntero“. Eine jener zwielichtigen Gestalten aus der Grauzone zwischen Politik und Unterwelt, die an Wahltagen die Slumbewohner ins Wahllokal begleitet und dafür Sozialhilfe auszahlt. Seine Truppe wacht darüber, dass sich keine neuen Siedler im Gebäude einnisten. Denn, das stellte 2013 die Justiz fest: Das Krankenhaus macht krank. Ja, das wussten sie schon, als sie 2008 einzogen. Jonatan war 18, Lola 25 und zweifache Mutter. Und schon war sie wieder schwanger. Jonatan arbeitete als Wächter, Zwölf-Stunden-Schichten von Montag bis Sonntag für 1700 Pesos, damals etwa 270 Euro. Sie hatten nur eine Wahl: „Elefante“, Erdgeschoß.

Der Unrat von Jahrzehnten. Wasser kam durch Wände und Boden. Der Bau steht im Sumpf, zwei der drei Untergeschoße sind vollgelaufen. „Der Unrat von Jahrzehnten“, sagt Jonatan und listet die Fauna auf, mit der sie die Zimmer teilten. „Ratten groß wie Katzen. Kakerlaken, Moskitos. Wir mussten zugedeckt schlafen, zum Essen trugen wir Mützen und Handschuhe, auch im Sommer.“ Die Kinder wurden in der Schule gehänselt, weil sie so zerstochen erschienen. Lolas drittes Kind kam, als die zwei Zimmer fertig gemauert waren. Die Decke war fünf Meter hoch, doch die Ziegel für die Wände reichten nur bis auf 2,80 Meter. „Es war Winter, eiskalt und nie warmzukriegen“, sagt die Mutter, die fast Tiziano verlor, dessen Lungen krank wurden und Jahre brauchten, um auszuheilen. Wie besessen mauerte und flieste Jonatan an der Bleibe, hoffend, sie einmal verkaufen zu können.

Bis heute können sie nicht glauben, dass das gelang. Eines Morgens, vier Jahre nach dem Einzug, klopfte jemand an und fragte nach dem Preis. Wie viel ist eine Wohnung wert in einem baufälligen verseuchten Gebäude ohne Heizung, Gas und Abwasser? Eine Immobilie ohne Adresse und Chance, je in ein Grundbuch eingetragen zu werden? 40.000 Pesos bekamen sie, damals etwa 7000 Euro. Fast genug für den Kauf einer kleineren Hütte in der Nähe: Wohnküche, Klimaanlage, Flachbild-TV und Monster-Boxen, der Hausherr rappt. Dahinter drei Schlafkojen, Vorhänge statt Türen. Eng wie auf einem Schiff, aber trockener als im „hospitalito“.

Fast alle Familien sind nun fort, ausbezahlt von der Stadt, das war billiger als die richterlich angeordnete Sanierung. Das Gebäude ist abgeriegelt, doch im ersten Stock spielen Knirpse Fußball, Hunde streunen umher, es riecht nach Kot und Urin. In einer Ecke rauchen Junkies Paco, Argentiniens Crack. Relikte früherer Einbauten sind zu sehen, Mauern eingebrochen, Waschbecken und Klos herausgerissen.

„Das hört sich vielleicht komisch an“, sagt Jonatan. „Aber manchmal fehlt mir das Leben dort.“ Er erzählt vom Zusammenhalt der Bewohner, der es ermöglichte, sogar die Drogenhändler zu vertreiben. In der „verborgenen Stadt“ häuften sich Diebstähle, Bandenkämpfe, Morde. „Aber wir haben es geschafft, diese Pest draußen zu halten.“

Endlich, das Leben. Im August kam Alma zur Welt, Lolas viertes Kind. Sie soll eine gesündere Kindheit haben. Die Familie zieht aufs Land, in ein Dorf, 100 Kilometer westlich der Endzeitkulisse. „Ein kleines Häuschen“, sagt Jonatan, „ein bisschen Wiese davor, ein bisschen dahinter. Da kann ich mich in einen Sessel setzen, tief Luft holen und sagen: ,Hey, das ist das Leben!‘“

Der Text ist ursprünglich im Magazin Bulletin der "Credit Suisse" erschienen.

Lexikon

Der „Elefante blanco“ ist die gewaltige Bauruine eines nie fertiggestellten Krankenhauses im Stadtteil Villa Lugano im Südwesten der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires. Der Name der Gegend geht zurück auf die gleichnamige Stadt im Schweizer Kanton Tessin: Der aus dem Tessin stammende Auswanderer José Ferdinando Soldati kaufte dort eine Farm und nannte den Ort im Oktober 1908 nach Lugano.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.02.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.