Lamya Kaddor: "Sexuelle Belästigung ist ein globales Männerproblem"

Lamya Kaddor
Lamya KaddorDominik Asbach / laif / picturedesk.com
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Patriarchalische Systeme schaffen problematische Frauenbilder, sagt Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor.

Der allein reisende männliche Flüchtling ist zu einer Projektionsfläche für Probleme geworden. Ist das nachvollziehbar?

Lamya Kaddor: Ich glaube, dass wir mit Fremdzuschreibungen und Verallgemeinerungen Menschen unrecht tun. Wir können nicht von einer Gruppe auf die Gesamtheit schließen.

In Köln sollen vor allem nordafrikanische Männer Übergriffe verübt haben.

In der öffentlichen Diskussion bemerkt man, dass da mit anderem Maß gemessen wird, wobei ich nicht außer Acht lassen möchte, dass das Ereignis in Köln etwas Besonderes war. Trotzdem ist sexuelle Belästigung ein globales Männerproblem. Es betrifft jede Kultur, jede Religion, jedes Land.

Woher kommt dann das Männer- und das Frauenbild, das Flüchtlinge mitbringen?

Natürlich spielt die Sozialisation eine große Rolle, was das Verhalten betrifft. Dass diese Menschen in patriarchalischen Gesellschaften groß geworden und sozialisiert worden sind, kann man nicht außer Acht lassen. Aber das betrifft nicht nur Muslime. Indien etwa ist weit weg vom Islam und hat ein zum Teil noch viel problematischeres Frauenbild. Das entschuldigt nicht das Verhalten dieser Männer, aber es erklärt es. Es würde zu kurz greifen, alles auf die Religion zu schieben.

Kann man das religiöse und kulturelle Männer- und Frauenbild voneinander trennen?

Sehr stark. Wenn man wirklich fromme Muslime nach ihrem Frauenbild fragt, würden sie sicher nicht sagen, dass man Frauen gegenüber übergriffig werden darf. Im Koran steht etwa, dass Frauen sich bilden dürfen und sollen, dass sie sich Privatbesitz aneignen dürfen, erben und vererben dürfen, dass sie eben nicht der Besitz von Männern sind. Deshalb ist das Verhalten der Männer in Köln alles andere als islamisch. Das heißt aber nicht, dass nicht trotzdem frauenverachtende Ansichten mit böser Absicht religiös hergeleitet werden können.

Zum Beispiel?

Dass man etwa sagt, dass Frauen minderwertig vor Gott sind. Da können es sich Christen sogar leichter machen, sie können sagen, dass Eva aus der Rippe Adams geformt wurde und daraus eine Minderwertigkeit – ebenfalls mit viel böser Absicht – ableiten. Das können Muslime nicht. Aber auch muslimische Männer können Gründe finden, um ein bestimmtes Frauenbild zu propagieren.

Wovon wird das dann hergeleitet?

Von Theologen, die bewusst bestimmte Koran-Passagen nehmen, etwa die Sure 4:34, in der es heißt: „Meidet sie im Ehebett und schlagt sie.“ Das kann man vieldeutig interpretieren. Natürlich gibt es Männer, die das dann wirklich machen, nicht symbolisch. Das ist die Herausforderung von Religionen, die in einer patriarchalen Gesellschaft verkündet werden. Mohammed musste den polytheistischen Mekkanern den Islam näherbringen, und das war durch und durch eine Männergesellschaft. Trotzdem hat er Revolutionäres gepredigt, besonders was die Frau betrifft. Es war damals nicht üblich, dass Frauen erben und Privatbesitz haben durften. Doch auch dieser Anspruch muss in die heutige Zeit übertragen werden.

Ist im Islam Gleichberechtigung angelegt?

Nicht Gleichberechtigung, wie wir sie heute kennen und einfordern. Der Koran kennt Zuschreibungen an typische Männer- und Frauenrollen. Etwa den Mann als Versorger oder die Frau, die ein Recht auf Muttersein hat. Der Koran enthält aber genügend Argumentationshilfen für die Emanzipation der Frau. Dass das in vielen muslimischen Gesellschaften noch immer nicht so gedacht wird, liegt nicht an den Frauen, sondern an den Männern. Aber auch die Mütter, die diese jungen Männer erziehen, haben immer noch ein klassisch patriarchalisches Rollenverständnis. Das machen arabische Christen aber auch nicht viel anders.

Gibt es regionale Unterschiede?

Natürlich, vor allem ländliche Gebiete erziehen eher zu einem traditionellen Rollenmuster, während das in Städten schon aufgebrochen ist. Schauen Sie sich zum Beispiel Istanbul im Vergleich zu Anatolien an.

Die Frage ist also eher nicht, ob Afghanistan oder Tunesien?

Es ist natürlich ein Unterschied, wenn wir wissen, dass in Afghanistan die Taliban die Rolle der Frau besonders einschränken wollen.

Die Menschen, die aus Afghanistan fliehen, sind aber meist eher keine Taliban-Freunde.

Trotzdem kennt man eher eine frauenfeindliche Einstellung in großen Teilen Afghanistans als etwa in Syrien, wo Frauen zwar Kopftuch tragen, aber auf die Uni gehen oder arbeiten, was keinen wirklich stört. Es macht schon einen Unterschied zu wissen, aus welcher Kultur jemand stammt.

Wie muss man diesen jungen Männern nun als Aufnahmegesellschaft begegnen?

Es geht um positives Vorleben von Gleichberechtigung. Und andererseits um Sanktionierung. Es muss klar kommuniziert werden, was bei uns selbstverständlich ist, und jeder Verstoß bestraft werden, juristisch und moralisch. Nur, dazu gehört eben auch, wenn so etwas passiert, nicht eine bestimmte Gruppe unter Generalverdacht zu stellen. Das ist einer aufgeklärten, offenen Gesellschaft nicht würdig.

Lamya Kaddor

Die Tochter syrischer Einwanderer wurde 1978 in Ahlen, Nordrhein-Westfalen, geboren. Lamya Kaddor studierte Arabistik, Islamwissenschaft, Erziehungswissenschaft und Komparatistik. Sie ist eine der Gründerinnen des Centrums für Religiöse Studien an der Uni Münster. Zu ihren Publikationen zählen unter anderem „Muslimisch – weiblich – deutsch“ und „Islam für Kinder und Erwachsene“. In ihrem aktuellen Buch „Zum Töten bereit“ schreibt sie über deutsche Jugendliche, die in den Jihad ziehen.

www.lamya-kaddor.de

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.02.2016)

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