Kenias Geschäft mit Flüchtlingen

Ein Camp als Großstadt: Blick auf Dadaab nahe der kenianisch- somalischen Grenze.
Ein Camp als Großstadt: Blick auf Dadaab nahe der kenianisch- somalischen Grenze.(c) REUTERS (THOMAS MUKOYA)
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Die Regierung in Nairobi will nicht länger Gastgeber für Hunderttausende Flüchtlinge sein. Das größte Camp der Welt, Dadaab, soll geschlossen werden. Es geht um Geld.

Als Mohammed sich entschied zu gehen, sagte er kein Wort. Eines Tages, im Juni 2015, war er einfach weg. Seine Mutter, Ismahan Abdiali, erinnert sich noch gut daran, was ihr ältester Sohn ihr in den letzten Monaten vorgehalten hat. Wie er trotziger geworden war, unzufriedener. Ungeduldig. „Ich bin als Flüchtling geboren. Ich kenne nichts als die Flüchtlingslager. Soll ich jetzt hier im Flüchtlingslager heiraten – und als Flüchtling sterben?“ Also verließ er dieses Leben, in Richtung Europa.

Dieses Leben, das ist Kakuma. Einst ein ärmlicher Ort in einer verlassenen Gegend im Bezirk Turkana im Norden von Kenia, um den sich keiner geschert und den keiner gekannt hat – bis dort 1992 für Flüchtlinge aus dem südlichen Sudan ein Lager aus dem Boden gestampft wurde, das über die Jahre gewachsen und gewachsen ist. Heute ist Kakuma das zweitgrößte Flüchtlingscamp des Landes, eine riesige Siedlung mit 190.000 Bewohnern.

Die Wellblechdächer der Unterkünfte flimmern schon von der Ferne in der Sonne. Kilometerweit erstreckt sich das Camp auf dem roten, steinigen Sandboden, Hütte neben Hütte, in immer gleichem Abstand und immer gleicher Größe. Viele Bewohner haben sich aus den Zweigen dorniger Büsche einen Zaun um ihre Behausung gebaut. Es gibt Latrinen und Wasserbrunnen. Hilfsorganisationen betreiben im Lager mehrere Schulen und zwei Krankenhäuser. Das Welternährungsprogramm verteilt Nahrungsmittel und Bargeld, mit dem sich die Menschen das Notwendigste kaufen können.

Die Lager-Politik. Der Großteil der Flüchtlinge in Kakuma stammt aus dem Südsudan. Seit dem Ausbruch des jüngsten Konflikts im Dezember 2013 hat das UN-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR allein von dort über 54.000 Neuankömmlinge registriert, täglich erreichen noch einige Dutzend das Transitzentrum an der Grenze. Viele andere Camp-Bewohner sind aus Burundi geflohen, der Demokratischen Republik Kongo, Äthiopien, Eritrea oder, wie Ismahan Abdiali, aus Somalia.

Die 45-Jährige ist eine zurückhaltende Frau mit freundlichen Augen, das grüne Kopftuch hat sie sich fest um den Kopf geschnürt. Ihre Heimat Somalia hat sie 1992 verlassen, inmitten des Bürgerkriegs. Im Jahr darauf kam Mohammed zur Welt, in einem Camp in Mombasa. Heute besteht ihr Leben darin, Gemüse ein- und weiterzuverkaufen und sich um ihre vier anderen Kinder zu kümmern, die jüngeren Geschwister von Mohammed. Sie hat sich mit dem Lagerleben arrangiert. Doch seit Kurzem macht sie sich Sorgen, wie es in Zukunft weitergeht. Denn die Regierung will einiges ändern.

Kenias Flüchtlingspolitik ist eine Camp-Politik: Wer hier Schutz sucht, muss in einem Lager leben. Die Flüchtlinge dürfen nicht regulär arbeiten; wer Glück hat, kann sich als „Freiwilliger“ ein Taschengeld verdienen. Die Lager zu verlassen ist ohne Genehmigung nicht erlaubt. So will Nairobi signalisieren, dass die Aufnahme nur vorübergehend ist. Rund 600.000 Flüchtlinge sind im Land registriert, sie verteilen sich zum Großteil auf Kakuma und Dadaab, das große Lager im Osten, in dem rund 350.000 Menschen leben, fast alle von ihnen aus Somalia. Es ist das größte Flüchtlingslager der Welt.

Das ist der Status quo, doch vor drei Wochen hat die Regierung in Nairobi eine Bombe platzen lassen: Mit Rücksicht auf die „Interessen der nationalen Sicherheit“ könne man den Flüchtlingen nicht länger Zuflucht bieten, erklärte das Innenministerium. Die rasche Schließung der beiden Camps werde vorbereitet, das Department für Flüchtlingsangelegenheiten sei aufgelöst. Niemand war vorgewarnt. „Ich habe davon aus den Medien erfahren“, sagt Honorine Sommet-Lange, Leiterin des UNHCR-Büros in Kakuma.

Inzwischen hat Nairobi die Ankündigung etwas abgeschwächt. Geschlossen werde nur das Camp von Dadaab, dieses riesige Massenlager, in dem die Behörden einen Hort des Terrorismus sehen. Als die somalische Terrorgruppe al-Shabaab im vergangenen Jahr auf dem Gelände der Universität Garissa fast 150 Menschen niedermetzelte, vermutete Nairobi die Hintermänner der Attacke in Dadaab. Schon damals wollte die Regierung das Lager schließen und die Flüchtlinge zurück nach Somalia schicken, aber sie ließ sich von der Staatengemeinschaft umstimmen. Diesmal, so heißt es, meine es Nairobi wohl ernst. Bis Mai nächsten Jahres, hat Kenia angekündigt, soll das Lager abgewickelt sein.

Rückkehr-Ängste. Der Mogadischu-Markt liegt im ältesten Teil des Lagers, der Kakuma 1 genannt wird. Viele Somalier, die hier leben, sind schon lang in Kakuma und schon Anfang der 1990er-Jahre geflohen. In den Läden, die die staubige Hauptstraße säumen, kann man alles kaufen: Essen, Kleidung, Mobiltelefone. Gruppen von Männern sitzen vor den Geschäften und plaudern. Verschleierte Frauen drängen sich vorbei. Motorräder und einige Geländewagen der Hilfsorganisationen rattern die Straße hinunter.

Auch wenn Kakuma von den Plänen der Regierung zunächst nicht betroffen ist, hat die Ankündigung hier große Sorge ausgelöst. Viele Somalis fürchten, dass sie in ihre Heimat zurückgeschickt werden könnten. Schließlich hat die Regierung mit dem Verweis auf ein 2013 vereinbartes Repatriierungsabkommen zwischen Kenia, Somalia und der UNO deutlich gemacht, dass sie den Dauerzustand beenden und die somalischen Flüchtlinge zur Rückkehr bewegen will.

Said Abdi ist einer der Vertreter der somalischen Gemeinde in Kakuma. Das Thema Rückkehr lehnt er, anders als andere, nicht kategorisch ab. „Die jungen Menschen hier können die Zukunft Somalias sein“, sagt er. Sie seien zur Schule gegangen, ausgebildet worden. Das Camp habe alle Stammeskonflikte vergessen gemacht. „Aber es ist noch nicht der richtige Zeitpunkt für eine Rückkehr.“ Abgesehen von der anhaltenden al-Shabaab-Gewalt und der völligen Abwesenheit eines stabilen politischen Systems hätten viele Somalier kaum mehr eine Verbindung zu ihrem Land. „Zurückzugehen hieße, wieder ein Flüchtling zu werden.“ Die meisten, sagt er, würden wohl in andere Flüchtlingscamps ausweichen, auf andere Länder wie Uganda. „Sie werden sich dem entziehen.“

Das ist ein Szenario, das auch die Geberländer nicht ausschließen können, die den Großteil der Flüchtlingsversorgung schultern. Peter Burgess, Vertreter der EU-Generaldirektion für Humanitäre Hilfe (Echo) in Nairobi, räumt ein: „Es besteht die Sorge, dass sich die Menschen in Bewegung setzen könnten.“ Und ja: „Möglicherweise auch einige in Richtung Europa.“

Nicht zufällig hat die Regierung in Nairobi die Flüchtlingsfrage gerade jetzt zum Thema gemacht. Auch wenn es keiner so offen sagen will, sind viele politische Beobachter überzeugt, dass der Schritt mit dem Deal zusammenhängt, den die EU mit der Türkei in der Flüchtlingskrise vereinbart hat, einschließlich der Milliardenzusagen. Besonders übel aufgestoßen ist Nairobi, dass die EU das Budget der Militärmission der Afrikanischen Union in Somalia (Amisom) zum Kampf gegen al-Shabaab um 20 Prozent gekürzt hat, mit Verweis auf finanzielle Engpässe. Nairobi hat dagegen schon lang auf eine stärkere Finanzierung von Amisom gedrängt – und fordert vehement mehr Engagement der Staatengemeinschaft in Somalia.

Hinzu kommt eine innenpolitische Erwägung: Im nächsten Jahr stehen in Kenia Präsidenten- und Parlamentswahlen an, schon jetzt steigen die Spannungen. Mit dem Thema Dadaab kann sich Präsident Uhuru Kenyatta gleich auf zweifache Weise als starker Mann profilieren: Hart gegen den Terror und hart gegen Flüchtlinge.

EU-Vertreter Burgess formuliert es so: Mit der Ankündigung, Dadaab zu schließen, habe Nairobi das Augenmerk auf die Flüchtlingssituation im eigenen Land gelenkt. „Dadaab ist eine verschleppte Krise, die gelöst werden muss.“ Und: „Die Staatengemeinschaft muss anerkennen, dass Kenia da nicht ganz unrecht hat.“ Nun will Nairobi einen detaillierteren Plan präsentieren, wie es die Sache umzusetzen gedenkt.

Dass es im Lager Sicherheitsprobleme gibt, stellt kaum einer der humanitären Helfer infrage. Während man sich in Kakuma tagsüber problemlos bewegen kann, fahren die Mitarbeiter der Hilfsorganisationen in Dadaab nie ohne eine schwer bewaffnete Eskorte der kenianischen Polizei. Sie bleiben auf den Hauptstraßen; ganze Viertel der Flüchtlingsstadt, heißt es von Leuten, die dort arbeiten, sind für die „Internationalen“ gar nicht mehr zugänglich.

Bloß: Niemand weiß, wie man das Problem derzeit lösen kann. Schon gar nicht in der von Nairobi vorgegebenen Zeit. Die wenigen Umsiedlungsplätze in eines der westlichen Länder, die das UNHCR den Menschen in Kakuma und Dadaab jedes Jahr anbieten kann, sind angesichts der Flüchtlingszahlen in Kenia verschwindend gering. Eine massenhafte Rückkehr der somalischen Langzeitflüchtlinge gilt wegen der Sicherheitslage in dem Bürgerkriegsland als ausgeschlossen. Und Nairobi lehnt es strikt ab, die Menschen dauerhaft zu integrieren.

Angesichts dieser Ausweglosigkeit des Lagerlebens sind vor allem viele jüngere Menschen zu einer leichten Beute für Schlepperbanden geworden. Im UNHCR-Büro in Kakuma häufen sich seit dem Herbst vergangenen Jahres die Schilderungen über Jugendliche wie Mohammed, die das Camp verlassen haben, um ihr Glück in Europa zu suchen. Genaue Zahlen gibt es nicht. Offiziellen Berichten zufolge seien es nicht mehr als 30 Fälle, schätzt UNHCR-Vertreterin Inge De Langhe. Aber es gebe viele Gerüchte und Ereignisse, von denen sich die Menschen erzählen. „Vor allem die somalische Gemeinschaft ist davon betroffen.“ Und auch Said Abdi sagt: „Viele sind weggegangen.“

Zukunft in Europa. Die Schlepper versprechen gut bezahlte Jobs in Libyen oder eine neue Zukunft in Europa. Sie kontaktieren ihre Opfer über das Internet oder kommen direkt in das Lager. Nicht selten enden die Mädchen in der Zwangsprostitution und die jungen Männer in den Händen von Gangs, die Lösegeld von den Angehörigen erpressen. Mindestens ein Fall ist dem UNHCR bekannt, in dem die Eltern ihre Nieren verkauft haben, um zwei Söhne freizubekommen. Andere, so erzählt man sich, seien umgebracht worden, weil niemand für sie bezahlen konnte.

Mohammeds Mutter Ismahan Abdiali hat nichts mehr von ihrem Sohn gehört. Ein einziges Mal, drei Monate nach seinem Verschwinden, habe er angerufen. Er sei jetzt im Sudan und werde nach Libyen weiterreisen, der nächsten Station nach Europa, sagte er damals. Es war der letzte Kontakt.

Als die Nachricht von der möglichen Schließung der Flüchtlingslager die Runde gemacht habe, erzählt Ismahan Abdiali, hätten ihre Kinder gesagt: „Bring uns woanders hin! Oder willst du hier zuschauen, bis das Camp geschlossen ist?“ Ihr zweitältester Sohn ist 18, der nächste 16. Ihre größte Sorge sei nun, sagt sie, dass „sie irgendwann denselben Weg einschlagen könnten wie Mohammed“.

Die Autorin wurde von der EU nach Kenia eingeladen.

In Zahlen

45 Millionen Menschen zählt die Bevölkerung in Kenia. In dem ostafrikanischen Land sind 598.000 Flüchtlinge registriert. Rund 350.000 davon leben im Lager Dadaab, 190.000 leben im Flüchtlingslager in Kakuma, das eigentlich nur über eine Kapazität von 125.000 verfügt.

18,7 Millionen Euro ist der diesjährige Beitrag der EU-Kommission zur humanitären Hilfe in Kenia. Die Unterstützung konzentriert sich auf die Flüchtlinge, schließt aber auch Hilfe bei Dürre und dem Ausbruch von Krankheiten wie Cholera mit ein.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.05.2016)

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