Auf der Suche nach Brody

Das ist Brody? Wenn Ausländer in das ukrainische Städtchen kommen, suchen sie meist etwas. Blick auf das Denkmal für die Opfer sowjetischer Repression.
Das ist Brody? Wenn Ausländer in das ukrainische Städtchen kommen, suchen sie meist etwas. Blick auf das Denkmal für die Opfer sowjetischer Repression.Jutta Sommerbauer
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Als Joseph Roth 1894 geboren wurde, war Brody eine quirlige Grenzstadt des Kaiserreichs. Heute ringt das ukrainische Provinznest nach dem Jahrhundert der Gewalt um Zukunft.

Das westukrainische Brody hat 24.000 Einwohner und keine touristischen Wegweiser. In den Gassen des quadratisch angelegten Stadtzentrums sind das Zirpen der Grillen und das Zwitschern der Vögel zu hören. In stuckbesetzten Jahrhundertwendehäusern haben sich Apotheken und Schönheitssalons eingerichtet. Matt dösen die Straßenhunde auf dem Asphalt der Uliza Solota, der Goldstraße. In den Innenhöfen hängen Wäscheleinen mit den Handtüchern und Unterhosen der Bewohner. Das ist Brody. Wirklich?

Früher kamen Israelis, um die Stadt ihrer jüdischen Vorfahren zu besichtigen. Kanadische Exil-Ukrainer, um womöglich entfernte Verwandte zu finden. Österreicher und Polen, um die Reste dessen zu bestaunen, was einmal Galizien war. Alle suchen sie ihr Brody, einen untergegangenen Sehnsuchtsort. Doch seit im Osten Krieg ist, sind Besucher selten geworden. „Auf den jüdischen Grabsteinen lagen schon einmal mehr Steine“, sagt Natalia Hanakowa.

Wer das disparate Brody verstehen will, braucht Einheimische wie Hanakowa an seiner Seite. Die 44-Jährige ist Mitarbeiterin des Heimatkundemuseums und Fremdenführerin. Hanakowas Erscheinung ist unprätentiös, sie trägt ihr Haar kurz und Sportkleidung. „Vielen Besuchern gefallen die Ruhe und die Sauberkeit“, sagt sie. Natürlich, von der einst bedeutsamen Handelsstadt des Habsburgerreiches ist kaum etwas übrig. „Wir haben, was wir haben.“

Vor allem ein Sohn der Stadt hat den Mythos Brody in die Welt gesetzt: Moses Joseph Roth, geboren am 2. September 1894 in der Bahnhofsgegend von Brody. Roth selbst hat behauptet, aus dem Ortsteil Schwaby – einer deutschen Kolonie – zu stammen. Es war nicht der einzige Teil seiner Biografie, den er ausschmückte.

Die Stadt lag bis zum Ende des Ersten Weltkriegs an der Grenze des Habsburgerreiches. „Brody um 1900 kann man sich als von jüdischen Händlern, Handwerkern und Hausierern geprägte Stadt vorstellen, auf deren Gassen neben dem Jiddischen auch Polnisch, Ukrainisch und Deutsch zu hören war“, sagt Paulus Adelsgruber, Mitautor von „Getrennt und doch verbunden“, einem Buch über Grenzstädte zwischen Österreich und Russland. „Die strategische Lage als Außenposten der Monarchie zum Russischen Reich machte Brody zu einem Tummelplatz von Spionen, Schleppern und Schmugglern – keine zehn Kilometer entfernt lag jenseits der Grenze die Zollstadt Radziwilow, in die rege Beziehungen bestanden.“ Reisende mussten wohl oder übel in Brody haltmachen. Pariser Gefängnisse seien weniger schlimm als die Hotels von Brody, zitiert Hanakowa Honoré de Balzac. Für Joseph Roth aber war Brody der Kosmos seiner Kindheit, in dem er den Stoff für seine Romane fand.


Ein Musterschüler. Das damals deutschsprachige Kronprinz-Rudolf-Gymnasium, das Roth mit Auszeichnung abschloss, ist heute noch ein prächtiger Bau, in den man – wie Natalia Hanakowa zufrieden feststellt – bei der Renovierung Holzfenster und nicht den üblichen Plastikramsch eingesetzt hat. Davor steht ein Denkmal aus der Sowjetära, das Roth als österreichischen Schriftsteller und Antifaschisten identifiziert. In der Sowjetukraine waren nur zwei Werke Roths auf Ukrainisch erhältlich. Seit der Unabhängigkeit sind fast alle Werke übertragen worden. Den Grund für das erwachte Interesse sieht Roths Übersetzer, Jurko Prochasko, im „Wegfall der sowjetischen Normierung, was, wer, wo und wann übersetzt werden darf“ und in der Qualität eines Autors, der für „ein anderes Bild der Ukraine steht, als es in der Sowjetzeit aufoktroyiert wurde“.

In Brody kennen selbst Kinder den Namen Roths. Doch nicht bei allen Bewohnern stoße sein Werk auf Anklang, sagt Hanakowa. „Diese Wehmut! Er sitzt in Paris, und doch denkt er ständig an dieses Brody.“ Ach, dieses Brody! Heute verlassen es die Menschen aus wirtschaftlichen Gründen. Viele zieht es zur Arbeit nach Polen. Die Erfolgreichen kommen mit Erspartem zurück, bauen Häuser und eröffnen Betriebe.

Zwischen Roths Jugend und dem Heute liegt die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Der Erste Weltkrieg, die kurze Phase der westukrainischen Volksrepublik, die polnische Herrschaft, der Einfall der Sowjets und Nazis. Wo heute die Ruine einer Synagoge steht, befand sich auch das Ghetto von Brody. Ganz wenige Juden überlebten. Die Sowjets gliederten die Westukraine nach der Rückeroberung ein in ihr Riesenreich. In Brody gleicht die Geschichte Bruchstücken. Wie oft wurden im vergangenen Jahrhundert Straßen umbenannt, wie oft wurden Denkmäler geschleift. Erst 1991 wurde aus der Lenin-Straße wieder die Uliza Solota.

Vor zwei Jahren hat man die Büste des russischen Feldmarschalls Kutusow entfernt und kürzlich ebendort ein Denkmal für die Maidan-Toten aufgestellt. Natalia Hanakowa war gegen die Demontage: Immerhin sei Kutusow in Brody gewesen. Wenn sie über Brodys Geschichte nachdenkt, liegt ihr persönlich die Sowjetzeit im Magen. Ihre russischen Eltern zogen einst in die Westukraine. „Tief im Inneren fühle ich mich manchmal schuldig dafür, was die Sowjets den Leuten hier angetan haben.“ Heute gilt ihr Mitgefühl den Familien der im Osten gefallenen Soldaten von Brody. Auch diesen Toten wird man ein Denkmal errichten.

Fragt man den 23-jährigen Roma nach dem Kriegseinsatz im Osten, winkt er ab. Der zarte Bursche sitzt mit Freunden im Park. Es ist eine Frage von Stunden, bis die Diskothek Broadway wieder öffnet. So lange hängen sie hier herum. „Ich bin zu jung, um zu sterben“, sagt er. Unlängst hat Roma zwei Monate in Polen verbracht, Äpfel gepflückt, sieben Tage die Woche, zwölf Stunden pro Tag. Von dem Ersparten möchte er sich ein Auto kaufen. „Einen Saporoschez“, scherzt sein Freund. Roma schätzt die Ruhe Brodys, nicht aber das Lohnniveau. In Polen arbeiten, in Brody leben sei „erst mal ein gutes Modell“. Roma schaut geradeaus. Er sieht Mütter mit Kinderwagen und zwei klapprige Alte. Dann durchbricht eine Handymelodie die Stille.

Fakten

Der Name Brodybedeutet Furten und verweist auf den sumpfigen Boden, auf dem die Stadt errichtet wurde.

Urkundlich erwähnt wird Brody erstmals 1084. Im 16. Jahrhundert erhält Brody das Magdeburger Stadtrecht. Unter polnischer Herrschaft werden Minderheiten angesiedelt, darunter Juden, die in der Folge die Bevölkerungsmehrheit bilden. Brody entwickelt sich zu einem religiösen Zentrum des osteuropäischen Judentums.

Nach der Ersten Teilung Polens fällt die ostgalizische Stadt 1772 an das Habsburgerreich. Sie wird damit zur österreichischen Grenzstadt mit dem russischen Zarenreich und wichtigem Warenumschlagplatz.

Der Erste Weltkrieg bringt Zerstörung und instabile Verhältnisse. Im Juli 1941 besetzen die Nazis Brody. Die Region wird erst 1945 in die Sowjetunion eingegliedert.

Heute hat Brody seine strategische Bedeutung verloren. Die Pipeline Odessa-Brody trifft hier auf die Pipeline Druschba. Luftlandetruppen der Armee sind in der Stadt stationiert.

Buchtipp: „Getrennt und doch verbunden. Grenzstädte zwischen Österreich und Russland“, Böhlau Verlag.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.06.2016)

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