Äthiopien: Die verschwiegene Katastrophe

Mädchen auf dem Weg zum Wasserbrunnen. In einigen Teilen Äthiopiens ist die Ernte komplett ausgefallen.
Mädchen auf dem Weg zum Wasserbrunnen. In einigen Teilen Äthiopiens ist die Ernte komplett ausgefallen. (c) Caritas
  • Drucken

Wegen der schwersten Dürre seit 30 Jahren kämpft Äthiopien mit einer Hungersnot. Die Lage wird sich noch verschlimmern. Doch die Krise passt nicht zu den Plänen der Regierung.

Auf den ersten Blick ist die Katastrophe unsichtbar. Die Fahrt von Dire Dawa in Richtung Chiro im Osten Äthiopiens führt durch die Amhara-Berge. Entlang der kurvigen Asphaltstraße wachsen Gräser und Sträucher, auf den kleinen Feldern an den Hängen sprießen die ersten Maispflanzen aus dem Boden. Am späten Nachmittag beginnt es in Strömen zu regnen, Wassermassen rinnen die Straße hinab, in den Schlaglöchern bilden sich tiefe Pfützen. Das ist das Äthiopien, das gerade die schlimmste Dürre seit 30 Jahren erlebt?

Man muss Menschen wie Hawa treffen, um den zweiten, anderen Blick zu erhalten. Besuch im Dorf Muli, unweit von Chiro, bei einer Gesundheitsstation, die von der Caritas Österreich unterstützt wird. Hier werden Schwangere, Mütter und Kinder unter fünf Jahren versorgt. Hawa kauert neben den anderen Frauen auf einer Bank vor einem Untersuchungszimmer. Das strahlende Hellgrün von ihrem Kopftuch ist ein scharfer Kontrast zu ihren müden Augen.

Die 60-Jährige ist mit ihrem Enkel hier. Nema ist ein Jahr alt, aber er sieht aus, als sei er erst vor zwei Monaten auf die Welt gekommen. Schlaff und reglos hängt der kleine Körper in dem Tragetuch, das sich Hawa um die Schultern gebunden hat. Wegen der langen Dürre hungert die ganze Familie. 20 Kühe habe sie gehabt, zehn seien in den vergangenen Monaten verendet. Die Maisernte ist ausgefallen. Nun lebt die Familie von Nothilfe-Rationen, die das Welternährungsprogramm (WFP) verteilt.

18 Millionen Bedürftige. In vielen Teilen Äthiopiens sind die beiden Regenzeiten 2015 ausgeblieben, bedingt durch das Wetterphänomen El Niño. Die Felder sind vertrocknet, die Pflanzen verdorrt, die Tiere verendet, die Vorräte aufgebraucht. Deshalb sind rund 18 Millionen Menschen auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen; mehr als drei Viertel essen nur einmal am Tag. Allein die Zahl der akut unterernährten Kinder schätzt das WFP auf über 450.000.
In der Gesundheitsstation von Muli hat man darauf reagiert. Ein Raum fungiert als Stabilisierungsstation. Er ist mit Matratzen ausgelegt, die als Schlafplätze dienen. Drei Wochen lang werden die am schwersten unterernährten Kinder wieder aufgepäppelt. Man sieht zwar nicht die Bilder, die bei der großen Hungersnot 1984/1985 die Weltöffentlichkeit aufschreckten: lebende Skelette mit Hungerbäuchen. Doch die Kleinen, die sich hier schüchtern an ihre Mütter drücken, sind viel zu dünn, viel zu klein, viel zu schwach.

Die Gruppe österreichischer Journalisten, die sich mit einer Caritas-Delegation ein Bild von der Lage machen will, hätte gern noch mehr erfahren. Doch Abdirahman Matan, Koordinator der Gesundheitsstation, drängt plötzlich zum Rückzug. Interviews werden abgebrochen, der Übersetzer weggerufen. Die Gruppe müsse nun wieder fahren, sagt er. Der Leiter der Zone – nach dem Distrikt die nächsthöhere Verwaltungseinheit – hat angerufen: Er habe für den Besuch keine Erlaubnis erteilt. Da spielt es keine Rolle, dass das Informationsministerium in der Hauptstadt Addis Abeba eine (seltene) schriftliche Genehmigung ausgestellt hat.

Von der Gesundheitsstation geht es zum Büro des lokalen Administrators, einer Art Bezirkshauptmann. Pilotenbrille, blitzweißes Hemd, gelber Blouson, helle Lederschuhe, machohaftes Auftreten. Während ein paar Meter von seinem Büro entfernt einige Dutzend Frauen 50-Kilo-Säcke mit Weizen und Sorghum der US-Hilfsorganisation US Aid auf einen Lkw hieven, auf dem auf einem Schild die Aufschrift „Obama“ prangt, lässt sich auch der Administrator nicht umstimmen: Der Besuch ist nach weniger als einer Stunde beendet.

Der Traum vom Schwellenland. Fotos von hungernden Kindern haben Äthiopiens Ruf als Hungerland Mitte der 1980er begründet. Doch die Regierung will diesen Ruf loswerden. Er passt nicht mehr zu dem neuen Erfolgsimage, das den Mächtigen vorschwebt. Premier Hailemariam Desalegn will das Land schon bis 2025 in ein Schwellenland mit mittlerem Einkommen verwandeln. Addis Abeba soll die pulsierende Metropole eines aufstrebenden Staats werden. Tatsächlich wird dort an jeder Straßenecke gebaut. Am Rande der Stadt werden ganze Viertel neu errichtet. Sogar eine elektrische Straßenbahn ist kürzlich in Betrieb genommen worden, die erste südlich der Sahara.

Kritiker werfen der Regierung deshalb vor, die Krise zu lang heruntergespielt zu haben. Erst im November rief Addis Abeba die Staatengemeinschaft um Hilfe an – Monate, nachdem klar war, dass es eine Krise gibt.
Der Hunger wütet auch in Gegenden, die lang keine Hungerkrise mehr erlebt haben, wie rund um die Stadt Meki im Bezirk Dugda, fast drei Autostunden südlich von Addis Abeba. Auch hier versucht die Caritas, mit Nothilfeprogrammen gegenzusteuern. Die Mitarbeiter verteilen Nahrung für Kleinkinder, sie stellen den Bauern Saatgut zur Verfügung, besonders bedürftige Familien erhalten ein Schaf oder eine Ziege.

Wie im Osten hat es vor ein paar Wochen auch hier wieder zu regnen begonnen. Doch ob genügend Regen fallen wird, um die nächste Ernte im Oktober zu sichern, ist völlig ungewiss. Und die Lage bleibt für jene, die nichts mehr besitzen oder sich gar verschuldet haben, verzweifelt: „Die Menschen stehen vor der paradoxen Situation, dass es zu grünen beginnt, sie aber nichts zu essen haben“, sagt Caritas-Präsident Michael Landau.

Hilfsorganisationen gehen davon aus, dass sich die Zahl der Hungernden bis in den Herbst weiter erhöhen wird, weil immer weniger Menschen noch Reserven haben. Von einer Entwarnung, das macht John Aylieff vom WFP klar, ist man jedenfalls weit entfernt. Im Gegenteil: „Wir befürchten, dass sich nun viele große Geber verabschieden, bevor die Arbeit getan ist.“ Caritas-Präsident Landau drängt deshalb darauf, noch mehr Hilfe zu leisten. „Solange die Kinder hier verhungern, haben wir als Gesellschaft versagt.“

Die Reise nach Äthiopien wurde teilweise von Sponsoren der Caritas finanziert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.06.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.