Was Island erfolgreich macht

Horses run near the town of Sulfoss, Iceland as a volcano in Eyjafjallajokull erupts
Horses run near the town of Sulfoss, Iceland as a volcano in Eyjafjallajokull erupts(c) REUTERS (Lucas Jackson / Reuters)
  • Drucken

Der kleine Inselstaat im Nordatlantik ist mehr als schöne Landschaften und solider Fußball. Die isländische Gesellschaft hat, was dem Rest Europas manchmal fehlt: den Blick für das Neue. Ein Porträt.

Kräftig, mutig, ausdauernd, agil. Es sind Attribute der Marke Wikinger, die in Erklärungsversuchen für das schillernde Image der Isländer besonders beliebt sind. Gerade stehen sie besonders hoch im Kurs: 2015 kamen laut isländischem Tourismusverband viermal so viele Touristen nach Island wie das Land Einwohner hat, ein Anstieg von 30 Prozent seit 2014. Und mit dem Einzug ins Viertelfinale der Fußballeuropameisterschaften hat sich die Insel im Nordatlantik im europäischen Beliebtheitsranking ganz nach oben katapultiert. Sicher: Wer gegen England gewinnt, hat es zurzeit auch nicht schwer.

Doch am Aufstieg Islands zur kleinen Supernation ist mehr dran als die Idee, dass dort fleißige Menschen leben, von denen manche soliden Fußball spielen. Islands Wirtschaftswachstum lag zuletzt im europäischen Spitzenfeld, die Arbeitslosenrate war 2015 die niedrigste in der EU. Und das, obwohl es während der Finanzkrise noch so aussah, als würde sich Island in puncto Wirtschaftsindikatoren künftig hinten einordnen müssen.

Die drei größten isländischen Geldinstitute – Glitnir, Kaupthing und Landsbanki – wurden 2008 verstaatlicht und strenge Kapitalverkehrskontrollen eingeführt. Island hatte ein Vielfaches seiner Wirtschaftsleistung an Auslandsschulden angesammelt. Hohe Zinsen zogen vor allem britische und niederländische Anleger an, deren Geld die aggressive Expansionsstrategie isländischer Geschäftsleute im Ausland finanzierte. Alles auf Pump, versteht sich, denn so viel Gegenwert konnte es in Reykjavík gar nicht geben.

Abgesehen von der Hauptstadt, ihren wohlhabenden Vororten und einigen Aluminiumwerken, die von der billigen Strom- und Wärmeerzeugung durch Geothermie profitieren, ist das 330.000-Einwohner-Land ja vor allem eines: leer. Vom Besuch Akureyris, der viertgrößten Stadt der Insel im Norden, wird Besuchern abgeraten. Zu langweilig – vor allem gemessen daran, was die Insel sonst bietet: Wasserfälle, Gletscherseen, Geysire, Nordlichter.


„Quasi-Wunder“. Ganz geheuer ist die rasche Erholung der isländischen Wirtschaft manchen Beobachtern noch nicht. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman betonte den Vorteil der eigenen Währung und ihrer raschen Abwertung während der Krise (etwa im Vergleich zum weniger flexiblen Irland), bezeichnet Island aber dennoch als „Quasi-Wunder“. Peter Dohlman, Island-Experte beim Internationalen Währungsfonds, nennt die erfolgreiche Restrukturierung der Schulden sowie den Tourismus als treibende Kräfte. Der Aufwärtstrend sei es aber „wert, tiefgründiger analysiert zu werden“.

Erst im Lauf dieses Jahres, viel später, als von der Regierung angekündigt, sollen Kapitalverkehrskontrollen gelockert werden, womit zumindest manche Banken Auslandsschulden zurückzahlen können. Gegen einen großen Teil der Zahlungen hatten sich die Isländer ja zweimal per Volksabstimmung gewehrt – so erhielten Großbritannien und die Niederlande 2015 nur einen Bruchteil jener Entschädigungen, die sie nach der Pleite der Online-Bank Icesave für verlorene Spareinlagen ihrer Bürger geleistet hatten.

Die Öffnung des Finanzmarkts ist zwar auch ein Risiko – Stichwort Kapitalflucht –, aber für die Verhinderung künftiger Krisen relevant. Immobilienpreise sind womöglich auch deshalb aufgebläht, weil wohlhabenden Isländern abgesehen von der Investition „um die Ecke“ wenige Optionen blieben.

Für weniger einkommensstarke Isländer ist dies sekundär. Aber sie verschaffen ihrer Enttäuschung Gehör. Der Erfolg der Piratenpartei ist dafür ein Beispiel. 2013 schaffte die von der Aktivistin und Poetin Birgitta Jónsdóttir gegründete Bewegung den Einzug ins Parlament, in Umfragen im Mai 2016 lag die Partei voran. Auch der Rücktritt von Premier Sigmundur Gunnlaugsson im April im Zuge der Panama-Papers zählt dazu. Ausgerechnet jener Mann, der versprochen hat, die Isländer vor ausländischen Gläubigern zu schützen, hat sein Geld auf den britischen Jungferninseln geparkt. Deklariert hat er dies nie.


Arbeitsethos. Die Mentalität der Isländer könnte die Erholung von der Krise beschleunigen. Der renommierte isländische Soziologe Stefán Ólafsson schreibt seinen Landsleuten, basierend auf Umfragen seit den 1970er-Jahren, gleichermaßen skandinavische wie amerikanische Züge zu. Isländer haben ein hohes Arbeitsethos, Autoritäten sind ihnen weniger wichtig. Sie orientieren sich am Hier und Jetzt, nicht notwendigerweise an der Vergangenheit. Als zentral im isländischen Wertesystem gelten aber Gleichberechtigung – zwischen Geschlechtern wie Gesellschaftsschichten – und Selbstbestimmung. Ähnlich wichtig ist Letztere im globalen Vergleich nur Amerikanern, Australiern und Briten, womit sich Island von anderen skandinavischen Ländern unterscheidet. Die politische Linke ist eher fragmentiert, bei Wahlen sind traditionell Parteien der Mitte und rechts davon erfolgreich. Sigurdur Jóhannsson, der neue Premier, ist Mitglied der landwirtschaftlich orientierten Fortschrittspartei. Die liberal-konservative Unabhängigkeitspartei fuhr nach der Finanzkrise herbe Verluste ein.

Gespür für Innovation. Eine Art Fischfangmentalität – also die Neuorientierung am Ertrag jedes Tages – lässt sich auch an einem Beispiel aus der Tourismuspolitik demonstrieren. So schreibt etwa der Soziologe Gunnar Jóhannesson, dass Tourismus erst als wirtschaftliche Kraft akzeptiert wurde, als der Chef des Tourismusverbandes den Wert von Touristen für Island öffentlich mit dem von Kabeljau verglich, und für einen Ausbau des Flugverkehrs plädierte. Flugzeuge – die neuen Fischkutter sozusagen, die nun eine andere Sorte von Lebewesen an Land ziehen sollten. Das hat geklappt. Der Vergleich erscheint außerhalb Islands freilich etwas plump, aber die Nähe zum Handfesten, zur Natur, in der Sprache wie Kultur, führt er doch vor Augen.

Doch es würde der Vielfalt Islands nicht gerecht werden, das Land auf traditionelle Formen der Wertschöpfung – Kabeljau, Aluminium, Tourismus – zu reduzieren. Es ist der Blick fürs Neue, ein Gespür für Innovation, der die Isländer ebenso ausmacht. Highspeed-Internet etwa war in Island früher als im Rest Europas die Norm. Datenzentren sind wegen der billigen, sauberen Stromerzeugung ein anderer Zukunftsmarkt. Der dänische Wetterdienst gab 2015 bekannt, sein Datenzentrum nach Island zu verlagern.

Ein anderes Beispiel: Im Rahmen des Carb-Fix-Projekts im Südwesten der Insel wird Kohlendioxid unter hohem Druck ins darunter gelegene Basaltgestein gepumpt. Der Energieversorger Reykjavík Energy hat früh erkannt, dass Technologie zur CO2-Abscheidung und Speicherung (Carbon Capture and Storage, CCS) sich im Rahmen stringenterer Klimaschutzgesetze zum Ex- oder vielmehr Importschlager entwickeln könnte. Funktioniert die Speicherung, könnte sich Island als CO2-Lager positionieren. Im Juni wies das isländisch-amerikanische Carb-Fix-Team nach, dass nach zwei Jahren (schneller als erwartet) 95 Prozent des CO2 vollständig mineralisiert wurde. Vorerst ist es nur ein Pilotprojekt, aber die Ergebnisse sind schon jetzt ein Meilenstein in der Weiterentwicklung des umstrittenen CCS.

Auch in der Kunst gilt Island als innovativ: Sowohl die Band Sigur Rós als auch die Sängerin Björk zählten lange Zeit zur Pop- und Rock-Avantgarde. Der dänisch-isländische Künstler Olafur Eliasson, der durch Lichtinstallationen bekannt wurde, ist heute ein Weltstar. Gerade hat er einen gigantischen Wasserfall im Schlosspark von Versailles errichtet. Manchmal führt das Neuartige auch zurück zur Tradition: Halldór Laxness wurde auch dafür mit dem Literaturnobelpreis geehrt, der isländischen Sagaliteratur eine moderne, lebendige Sprache verliehen zu haben. Sprachtradition wird bis heute hoch gehalten. So heißt etwa Computer tölva, was sich aus Zahlen und Hexe zusammensetzt. Ganz geheuer scheinen den Isländern Computer nicht gewesen zu sein.

Ob die Isländer bei der Fußball-EM heute gegen Frankreich gewinnen, ist nebensächlich. Allein dass das Team so weit kam, ist für sie Grund zum Feiern. „Work hard, play hard“ ist zwar ein Motto der USA, aber so weit ist es dorthin schließlich nicht – weder kulturell noch geografisch.

Fakten

Mit 330.000 Ein- wohnern hat Island nur wenig mehr als Graz. In der Hauptstadt Reyjavík wohnt mehr als ein Drittel der Bevölkerung: über 120.000 Menschen.

Mit 103.000 Quadratkilometern ist Island nach Großbritannien der zweitgrößte Inselstaat Europas. Österreichs Fläche ist mit rund 83.000 Quadratkilometern deutlich kleiner.

1,26 Millionen Tou- risten haben im vergangenen Jahr die Insel besucht – es war das dritte Rekordjahr in Folge. Heuer erwartet Island ein weiteres Hoch: 1,34 Millionen Touristen sollen das Land besuchen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.07.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.