"Am Anfang denken alle, der IS sei gut"

Anne Speckhard
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Anne Speckhard über IS-Rückkehrer, die Terroranschläge für gerechtfertigt halten, Frauen, die andere Frauen quälen – und warum sie sich Sorgen um die USA macht.

Nach den ersten Interviews musste Ihr Kollege Ahmet Yayla in die USA fliehen, weil der IS auf Ihre Arbeit aufmerksam wurde. Gibt es seit der Veröffentlichung des Buchs und der ersten Videos irgendwelche Reaktionen?

Anne Speckhard: Bis jetzt noch nicht. Aber im Moment sind nur zwei Videos online und noch nicht 50. Aber sie sehen sich das vermutlich an. Osama bin Laden hatte Anti-Terrorismus-Bücher meiner Kollegen im Regal. Meine Bücher waren leider nicht dabei (lacht).

Sie haben erst angefangen, die Videos zu schneiden, wie geht es jetzt weiter?

Ich habe im Moment Freunde auf der ganzen Welt gebeten, die Videos mit Untertiteln in ihren Sprachen zu versehen. Wir wollen sie ja so schneiden und beschriften, dass sie wie IS-Propaganda-Videos aussehen. Leider musste der Cutter, den wir davor hatten, aufhören. Das Schneiden der Videos war zu schmerzhaft für ihn.

Wie wollen Sie die Videos verteilen?

Wir arbeiten daran. Um in einen IS-Messaging-Dienst zu kommen, sollte man ein Wegwerfhandy verwenden. Das heißt aber auch, dass man viele Handys brauchen wird. Wir müssen noch an der Finanzierung arbeiten. Im Moment stellen wir die Videos auf YouTube und schauen, was passiert.

Welches Interview ist Ihnen am meisten in Erinnerung geblieben?

Eines, das erst veröffentlicht wird. Da gibt es ein junges Mädchen, das mit 14 beschließt, Medizin zu studieren. Ihre Eltern unterstützen sie. Dann bricht der Krieg aus, sie studiert trotzdem. Ihre Eltern sterben, und sie heiratet einen IS-Anhänger und wird Teil der Hisbah, der IS-Polizei. Sie erzählt, wie sie die Frauen, die sie gefangen genommen hat, nackt ausziehen musste. Dann steckte sie sich Metalzähne in den Mund und biss die Frauen damit. Und wir sagten: „Oh, mein Gott, das muss wirklich schrecklich gewesen sein.“ Und sie sagt: „Nein, es hat mich stark gemacht.“ Das war einfach ekelhaft.

Sie haben auch mit einem Belgier gesprochen, der dem IS eigentlich noch anhängt.

Ja, nicht nur mit einem Belgier, auch mit einem Albanier. Sie sind zwar beide vom IS davongelaufen, sagten mir aber, dass sie die Terrorattacken in Europa für gerechtfertigt halten. Das ist schlimm. Als wir das Video aufnahmen, wurde der Kameramann so sauer, dass er anfing, den Albanier zu beschimpfen. Er ist noch im Gefängnis, aber die Leute, die so hin- und herwanken, die sind am gefährlichsten.

In Ihrem Buch werden die westlichen Jihadisten, die Foreign Fighters, als die wirklich überzeugten IS-Anhänger bezeichnet.

Radikale Organisationen wie die al- Qaida sind schon lang in Europa und haben hier ihr Netzwerk aufgebaut. Es gibt radikale Imame und Straßenprediger. Umgekehrt sind Muslime in Europa seit Jahren wütend, dass westliche Truppen in Afghanistan und im Irak einmarschiert sind. Ich hab gerade wieder ein Video gesehen, in dem die Kinder gezeigt werden, die durch westliche Bombenangriffe gestorben sind.

Ex-IS-Anhänger erzählen oft, dass sie sich dem IS anschlossen, um Muslimen zu helfen.

Ja, am Anfang denken alle, der IS sei gut. Es ist auch nicht das erste Mal, dass jemand sagt: Man muss Blut vergießen, und danach haben wir eine gerechte Gesellschaft. Ich glaube, sie wollen das auch einfach glauben.

Warum kann der IS trotzdem sein Bild aufrechterhalten? Mittlerweile kommen viele zurück und sagen: Das war anders dort.

Aber das sagt nicht jeder, der zurückkommt. Manche sagen: Hey, es war nicht so schlecht. Ich wollte zwar nicht unter Bomben leben, aber ihre Idee ist gut. Und es gibt genug Leute auf der Straße, die die Idee weitergeben. Man darf nicht vergessen, dass Muslime in Europa deutlich diskriminiert werden. Das ist eine schwelende Lunte, auf die der IS Benzin gegossen hat. Die sagen, ihr habt keinen Platz in dieser Gesellschaft, kommt zu uns, hier könnt ihr in Würde leben. Und wenn man frustriert genug ist, dann kann man es glauben.

Wie kann man das lösen?

Man muss an beiden Seiten arbeiten. Man muss die Marke IS zerstören – dafür sind die Rückkehrer geeignet. Und man muss die sozialen Probleme angehen. Ich mach mir Sorgen um die USA und die Black-Lives-Matters-Bewegung. Der IS probiert schon, seinen Weg dort hinein zu finden. Nach einer der Polizeischießereien schrieb der IS auf Twitter: „Schwarze Menschen in Amerika. Wir sind mit euch.“ Niemanden hat das interessiert, aber ich frage mich, was ist, wenn schon. Der IS wird immer eine Gruppe suchen, die unglücklich ist – und dieses Unglück nutzen sie.

Steckbrief

Anne Speckhard
ist außerordentliche Dozentin für Psychiatrie an der Georgetown University School of Medicine in den USA. Sie ist die Gründerin und Direktorin des International Center for the Study of Violent Extremism (ICSVE).

Für ihre Arbeit hat Speckhard über 400 Interviews mit Familienmitglieder, Freunden, Wegbegleitern, und Opfer von Dschihadisten sowie mit  Terroristen selbst geführt. Sie kamen aus Palästina, Israel, Iraq, Libanon, Tschetschenien, Belgien, Türkei etc.

Sie ist Autorin der Bücher „Talking to Terrorists“, „Bride of ISIS“ und Koautorin von „Undercover Jihadi and Warrior Princess“. 2007 war sie an der Entwicklung des Detainee Rehabilitation Program im Irak für das US-Militär beteiligt.
Speckhard

Für ihre aktuelles "ISIS Defectors Interviews Project" interviewt sie mit einem türkischen Kollegen IS-Aussteiger. Die Videos werden online gestellt und sollen so zeigen, wie es bei der Terrororganisation wirklich abläuft. Die ersten zwölf Interviews sind am 1. Juli 2016 in einem Buch veröffentlicht worden. „Isis Defectors: Inside Stories of the Terrorist Caliphate“, Englisch, 372 Seiten, Verlag: Advances Press

www.icsve.org

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.08.2016)

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