In Amatrice wurde ein mutmaßlicher Plünderer festgenommen. Starke Nachbeben behindern die Rettungsarbeiten. Ein kleines Mädchen wurde geborgen, das in den Armen ihrer toten Schwester überlebt hatte.
Rom. Über mehrere Stunden hatten die Helfer einen Stein nach dem anderen beiseitegeschafft, sich zwei Meter tief in den Trümmerberg gegraben, der von dem Wohnhaus in dem zerstörten Ort Pescara del Tronto übrig geblieben war. Plötzlich entdeckten sie eine Puppe, dann einen Fuß. „Er war ganz kalt, ein ganz schlechtes Zeichen“, schildert der Feuerwehrmann Caico. Unter dem Schutt fanden sie den leblosen Körper der neunjährigen Giulia. Sie hatte das Erdbeben nicht überlebt. Dann, sagt der Helfer, sei plötzlich ein leichtes Stöhnen zu hören gewesen. „Da hat sich der Albtraum in einen Traum verwandelt!“ In den Armen des toten Kindes fanden sie ihre vierjährige Schwester Giorgia – schwach, aber so gut wie unverletzt.
Die Feuerwehr vermutet, dass der Körper der Schwester das Mädchen geschützt hat. „Und wahrscheinlich ist irgendwie ein winziger Luftstrahl zu ihr durchgedrungen, der ausgereicht hat.“ Ihr Mund sei voller Erde gewesen, aber sie habe gleich nach Wasser gefragt. Die Eltern der beiden Mädchen waren Stunden zuvor schwer verletzt geborgen worden. „Wenn es Wunder gibt“, sagt der Retter, „dann war das ganz sicher eines.“
Schwindende Hoffnungen
Es sind Erlebnisse wie dieses, die die Helfer antreiben, in den Trümmern der zerstörten Häuser auch am dritten Tag nach dem verheerenden Beben weiter nach Überlebenden zu suchen. Fast 240 Menschen konnten bis am Freitagnachmittag lebend geborgen werden, wie der Zivilschutz der fast zerstörten Gemeinde Amatrice mitteilte. Noch bestehe die Möglichkeit, Überlebende zu finden, sagte Feuerwehrsprecher Luca Cairi dem Sender Rai. „Noch sind wir in der Phase der Hoffnung.“
Doch mit jeder Stunden schwinden die Hoffnungen, und weitere schwere Nachbeben behindern die Rettungsarbeiten zusätzlich. So richtete ein Erdstoß der Stärke 4,8 am Freitag in den frühen Morgenstunden solche Schäden an einer Brücke nach Amatrice an, dass dieser einzige direkte Zugang zu der Berggemeinde gesperrt werden musste. In der Stadt selbst stürzten weitere Mauern ein. Insgesamt wurden in den vergangenen drei Tagen mehr als 920 Nachbeben gezählt.
Bis Freitagnachmittag wurden 267 Tote geborgen, über 200 allein in Amatrice, und die Helfer rechnen damit, dass sie weitere Leichen unter den Schuttbergen finden werden. Fast 400 Menschen wurden bei dem Beben verletzt, rund 40 befanden sich am Freitag noch in kritischem Zustand.
Auch hat es offenbar die ersten Plünderungsversuche in den zerstörten Ortschaften gegeben. Die Polizei nahm in Amatrice einen Mann fest, der sich Zugang zu einer zerstörten Wohnung verschaffen wollte. Der mutmaßliche Plünderer soll 45 Jahre alt und vorbestraft sein, der Polizei ist er wegen Drogenhandels und Waffenbesitzes bekannt. Weil sie Plünderungen befürchten, bleiben viele obdachlos gewordene Bewohner der Gegend in ihren Heimatorten und übernachten in Autos vor den beschädigten Häusern.
Notstand und Präventionsplan
Die italienische Regierung hat am Donnerstagabend den Notstand ausgerufen und die ersten 50 Millionen Euro an Hilfsgeldern freigegeben. Premier Matteo Renzi kündigte außerdem einen Präventionsplan an, um die Gebäude für solche Erdbeben künftig besser zu rüsten. Heute, Samstag, sollen rund 40 der Opfer im Rahmen eines Staatsbegräbnisses in der nahe gelegenen Stadt Ascoli Piceno beigesetzt werden. Für den Tag hat die Regierung Staatstrauer angeordnet. (ag.)
AUF EINEN BLICK
267 Menschen konnten bis am Freitag nur noch tot aus den Trümmern geborgen werden, 207 davon allein in Amatrice. Fast 400 Menschen wurden bei dem Beben verletzt, 40 davon sollen sich in kritischem Zustand befinden. 238 Menschen wurden lebend gefunden. Das Erdbeben war das schlimmste in Italien seit 2009.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.08.2016)