Ohne Finger auf den Everest

File photo of Japanese climber Nobukazu Kuriki speaking during his interview in Kathmandu
File photo of Japanese climber Nobukazu Kuriki speaking during his interview in Kathmandu REUTERS
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Mit nur einem Finger wollte der japanische Bergsteiger Nobukazu Kuriki vor einem Jahr den höchsten Berg der Welt besteigen. Er scheiterte. Nun versucht er es erneut.

Noch sitzt Nobukazu Kuriki entspannt an einem Kaffeetisch in einer Tokioter Bürowohnung. Ein paar Wochen habe er ja noch, sagt er und nippt an einer Wasserflasche. Aber ja, seine Nervosität steige von Tag zu Tag. Beim inzwischen sechsten Versuch sogar deutlich mehr, gibt er zu und fasst sich in seine bewusst zerzausten Haare. Schließlich sei er ja nicht lebensmüde.

Seit Freitag ist es wieder so weit. Der 34-jährige Japaner will es ein weiteres Mal wissen. Gelingt es ihm, den Mount Everest zu besteigen, den mit 8848 Metern höchsten Berg der Welt? Das haben über Zehntausend vor ihm zwar auch schon geschafft. Doch er will ohne künstlichen Sauerstoff auskommen. Auch das ist rund hundert Menschen schon gelungen. Doch wegen der dünnen Luft ist diese Art des Höhenbergsteigens sehr gefährlich und kann Lungen- und Gehirnschäden auslösen. „Das ist die reinste Form des Bergsteigens“, sagt Kuriki.

Zudem will er im Herbst den Gipfel erklimmen, wenn die Tage kürzer werden und es ab 8000 Höhenmeter schon wieder besonders windig und eisig zugeht. Die Lebenschancen in dieser sogenannten Todeszone liegen dann bei unter 48 Stunden. Doch diese zusätzlichen Strapazen nehme er auf sich. Schließlich wolle er den Menschenmassen entfliehen, die im Frühjahr den Berg erklimmen. Er habe bei seinen vergangenen Versuchen schon erlebt, dass auf dem Basislager ein Stau entsteht. Mehr als drei Stunden habe er warten müssen, bis er wegkam. Im September und Oktober sei es sehr viel stiller.

Und: Der japanische Alpinist will all das mit nur einem Finger schaffen, genau genommen mit seinem rechten Daumen. Alle anderen neun Finger mussten ihm 2012 amputiert werden, nachdem sie bei einem seiner Versuche am Everest erfroren waren. Nur einem ist das unter ähnlich schweren Bedingungen gelungen: Reinhold Messner. 1980 war das. Messner hatte zuvor drei Fingerkuppen verloren.

Die Leidenschaft für diese extreme Form des Bergsteigens entdeckte Kuriki im Studentenalter. Zusammen mit einem Freund wollte er die schneebedeckten und menschenleeren Berge von Hokkaido, Japans Nordinsel, erklimmen „Wir hatten keinen Mobilfunkempfang, der Schnee war tief“, erinnert er sich. Erst dachte er, das sei unmöglich. Doch sie hatten ihr Ziel nach einer Woche erreicht. „Ich hab das geschafft, wovon ich gedacht habe, ich kann's nicht.“ Das spornte ihn an, höhere Gipfel zu besteigen. Sein derzeitiges Ziel: Er will alle Gipfel des Himalaja über 8000 Meter solo und ohne Sauerstoffflasche besteigen. Der Everest fehlt ihm noch.

Im Auftrag der Regierung. Im Vorjahr war Kuriki der große Hoffnungsträger von Nepals angeschlagener Tourismusindustrie. Im April 2015 hatte gleich zu Beginn der Frühjahrssaison ein Erdbeben der Stärke 7,8 den Himalaja erschüttert. Mehr als 9000 Menschen kamen ums Leben. Die chinesischen Behörden ließen ihren Teil des Berges komplett absperren. Auf der nepalesischen Seite riss im Zuge des Bebens eine Lawine große Teile des Basislagers mit, 18 Menschen kamen ums Leben. Auch hier mussten die Expeditionen abgesagt werden.

Die nepalesische Regierung beauftragte Kuriki im vergangenen Herbst, als Erster nach dem Beben den Everest wieder zu besteigen. Mit dieser spektakulären Werbeaktion – ohne Sauerstoffflasche und mit nur einem Daumen – sollte er den Bergtourismus wieder ankurbeln. Er ist mit Abstand die wichtigste Einnahmequelle des Landes.

Ein Kamikaze? Doch Kuriki scheiterte. Bei etwa 8150 Höhenmeter sah er sich zum Abbruch gezwungen. Sein Körper sei völlig erledigt, ihm sei übel und er habe Schwindelgefühle, schrieb er damals in seinem Blog, den er während seiner Tour regelmäßig bestückte und dem weltweit Zehntausende folgten. „Ich bewege mich wie ein alter Mann“, postete er. Nun will er sich denselben Qualen erneut aussetzen. Ist er leichtsinnig? Besessen? Vielleicht doch lebensmüde? Ein Kamikaze gar?

„Nein“, antwortet er. Das Leben sei ihm sogar sehr wichtig. Daher bereite er sich intensiv auf den Aufstieg vor, trainiere hart. Sicherlich, der Verlust seiner Finger erschwere den Aufstieg. „Anfangs war es echt schlimm“, sagt Kuriki. Er konnte nicht einmal seine Schnürsenkel binden und mit Essstäbchen essen. „Natürlich fällt mir die Bergsteigeausrüstung leicht runter.“ In der Reha habe er aber gelernt, mit all dem umzugehen. Doch er gibt zu: „Wenn ich Finger hätte, wäre vieles sehr viel leichter.“

Und ja, sicherlich kalkuliere er ein, nicht heil oder gar nicht mehr zurückzukehren. Doch das wolle er um jeden Preis vermeiden. Er halte sich an sein Vorbild Reinhold Messner, der immer wieder beschwor, dass der Abbruch fest eingeplant werden müsse, sonst drohe der Tod. „Erst die Fähigkeit zur Umkehr selbst kurz vor dem Gipfel sichert das Leben“, sagt Kuriki. Das unterscheide Profibergsteiger von Amateuren. Angst vor dem Tod hat er aber nicht.

„Jeder trägt den Tod in sich“, sagt er. Ob man ihn empfinde oder nicht – das unterscheide die Menschen. Erst die Konfrontation mit dem Tod habe ihm bewusst gemacht, wie wichtig ihm das Leben ist. Und Kuriki ist sich sicher: Wenn der Aufstieg des Everest leicht wäre, dann würden ihn nicht so viele Menschen erklimmen wollen.

Väterlicher Zuspruch. Kuriki ist unverheiratet, Kinder hat er nicht. Seine Mutter verstarb, als er 17 Jahre alt war. Sein Vater unterstützt ihn. Er hat ihn geradezu zu dieser Leidenschaft ermutigt. Als Kuriki den über 7000 Meter hohen Mount McKinley in Alaska allein besteigen wollte, rieten seine Freunde ihm davon ab: „Bis du wahnsinnig? Das ist doch viel zu gefährlich.“ Nur sein Vater sprach ihm Mut zu.

Das Jahr 2015 ging vorbei, ohne dass ein Mensch es auf den 8848 Meter hohen Berg schaffte. Das gab es seit mehr als 40 Jahren nicht. Doch schon die Frühjahrssaison 2016 zog wieder Tausende zur Everest-Basisstation. Und mehr als 450 Bergsteiger schafften bis Ende Mai den Aufstieg auch. Mindestens fünf Menschen ließen aber ihr Leben, darunter die Australierin Maria Strydom. Sie hatte zusammen mit ihrem Mann beweisen wollen, dass sie auch als Veganer diese Expedition schaffen würden. Sie hatte den Gipfel bereits erreicht, erlag aber während des Abstiegs der Höhenkrankheit. Statistisch gibt es einen Toten auf 25 erfolgreiche Besteigungen.

Was Kuriki von solchen Vorhaben halte? „Ich finde es gut, wenn Menschen konkrete Ziele haben und ihnen nachgehen“, antwortet er. Dazu gehöre auch das Erklimmen des Everest. „Doch eine intensive Vorbereitung gehört schon dazu.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.08.2016)

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