Gambia: Ein Land, das von der Flucht lebt

Fischer am Tanji Beach, 25 km südlich der Hauptstadt Banjul. Bevor sich die Libyen-Route öffnete, brachen von hier aus viele Flüchtlinge auf und reisten auf dem Seeweg nach Spanien.
Fischer am Tanji Beach, 25 km südlich der Hauptstadt Banjul. Bevor sich die Libyen-Route öffnete, brachen von hier aus viele Flüchtlinge auf und reisten auf dem Seeweg nach Spanien.(c) Christian Putsch
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Der Aufbruch nach Europa hat in Gambia System. Diktator Yahya Jammeh verweigert Rückführungsabkommen und hat seine Wirtschaft trotz eingefrorener Entwicklungshilfe von Zahlungen aus dem Westen abhängig gemacht. Besuch in einem Dorf, das seine Jugend verliert.

Die ersten Meter von Gambia nach Europa führen in ein winziges Zimmer. Auf dem Boden, zwischen Bett und Schrank, empfängt Imam Kawsu Touray seine Kundschaft. An der Wand hängt ein Bild der Kaaba in Mekka, sein Wecker ist in eine Moschee-Nachbildung eingelassen. Ohne den spirituellen Rat des hageren Greises mit dem weißen Bart wagt sich im Dorf Gunjur niemand auf den „Back Way“, den Weg durch die Hintertür, wie sie hier die gefährliche Reise über den Senegal, Mali, Niger und Libyen nach Europa nennen.

Touray isst Fischcurry, eine schnelle Stärkung – gleich erwartet er den nächsten Reisewilligen. „Er wird nach meiner Behandlung vor allen Gefahren geschützt sein“, sagt der Geistliche und zeigt einen Fellgürtel, in den er Verse des Koran eingearbeitet hat. Sein Träger sei vor Grenzkontrollen sicher. „Wer die Personalien aufnimmt, wird sie sofort wieder vergessen.“

Dazu serviert er von Kräutern getrübtes Wasser. Der Konsum gebe die Fähigkeit, an jedem Ort gastfreundlich aufgenommen zu werden. Touray gehört zu den wohlhabendsten Menschen des 20.000-Einwohner-Dorfs. Hunderte hat er behandelt. Die meisten zahlen mit einer Kuh oder ihrem Gegenwert: 300 Euro.

Ausgeblutet. Durch dieses Hinterzimmer des Imam blutet die Ortschaft aus, verliert ihre Jugend, wie die meisten Dörfer im westafrikanischen Gambia. In den Jahren 2012 bis 2014 vervierfachte sich die Zahl der Asylbewerber in Europa aus Gambia auf zuletzt 12.000 jährlich. Proportional zur Bevölkerung von nicht einmal zwei Millionen hat Gambia eine der höchsten Emigrationsquoten weltweit. 3110 Gambier stellten im Jahr 2015 einen Asylantrag in Deutschland – fast zwölfmal so viel wie noch im Jahr 2012 (263). Damals war die Flucht nach Europa noch gefährlicher als heute, sie erfolgte auf einem offenen Boot entlang der Atlantikküste bis nach Spanien. Seit Gaddafis Fall kommen an Italiens Küste nur aus Syrien und Eritrea mehr Flüchtlinge an.

Der Imam Kawsu Tourey aus dem Dorf Gunjur (links) unterzieht Flüchtlinge vor ihrer Reise nach Europa einem spirituellen Ritual, das sie vor Tod und Abschiebung schützen soll.
Der Imam Kawsu Tourey aus dem Dorf Gunjur (links) unterzieht Flüchtlinge vor ihrer Reise nach Europa einem spirituellen Ritual, das sie vor Tod und Abschiebung schützen soll.(c) Christian Putsch

Tourays Kunden flüchten vor einer international kaum wahrgenommenen Diktatur. Yahya Jammeh droht, Schwulen die Kehle durchzuschneiden. Antiretrovirale Medikamente lehnt der Herrscher für seine Bevölkerung ab. Er höchstpersönlich könne HIV heilen. Aber nur an Donnerstagen. Vor einigen Jahren zwang seine Leibgarde ein ganzes Dorf, das er der Hexenkraft gegen ihn bezichtigte, zur Einnahme einer von ihm angemischten Flüssigkeit mit halluzinogener Wirkung.

Während Dutzende afrikanische Länder Fortschritte bei der Demokratisierung gemacht haben, widersetzt sich Jammeh in Gambia dem Zeitgeist, seit er sich 1994 noch vor seinem 30. Geburtstag an die Macht geputscht hat. In seinem Reich sind außergerichtliche Inhaftierungen, Folter und staatlich angeordnete Morde an der Tagesordnung. Im April starb das führende Oppositionsmitglied Solo Sandeng in Untersuchungshaft. Derart viel Unmut sah sich Jammeh trotz immer neuer Verhaftungen noch nicht ausgesetzt. An seiner Drohung, er werde „eine Milliarde Jahre lang regieren“, ändert dies jedoch nichts. Per Veto verhinderte er die Reduzierung auf zwei Amtszeiten für alle Präsidenten der westafrikanischen Staatengemeinschaft Ecowas.

Die Flucht von Gambias Jugend ist von ihm durchaus gewollt. Offiziell kritisiert er zwar „Eltern, die für die Reise und den Tod ihrer Kinder im Mittelmeer zahlen“. Europäische Staaten würden die Boote absichtlich kentern lassen und gehörten vor dem Weltstrafgericht angeklagt. Doch junge Gambier in Europa sind besser als protestierende Gambier vor dem Präsidentenpalast.
Bei einem Wrestling-Turnier in seinem Heimatdorf sagte der Diktator, das Preisgeld in Höhe von rund 2000 Euro sei genug für die Reise nach Europa. Rückführungsabkommen verweigert er. Als Spanien vor einigen Jahren 100 illegale Flüchtlinge nach Gambia zurückschickte, musste das Flugzeug nach Spanien zurückkehren: Die Behörden in der Hauptstadt Banjul hatten die Passagiere daran gehindert, das Flugzeug zu verlassen.

Lukrative Diaspora. Ein Fünftel der Wirtschaft basiert auf Zahlungen aus der Diaspora, laut Angaben der Weltbank ist das eine der höchsten Quoten weltweit. Vom Lockruf des Westens lebt halb Gunjur. Da ist der örtliche Bauhändler, der erzählt, dass über die Hälfte seines Betons mit Geld von Verwandten in Europa bezahlt werde. Und da sind Schleuser wie Parteh S. – ein kleines Rad in dem Milliardengeschäft. Auf seinem staubigen Hof laufen Hühner, im winzigen Wohnzimmer glänzen Kunstledergarnitur und Flachbildschirm. Parteh arbeitet hart für sein kleines Stück Wohlstand. Einmal fährt er Taxi, einmal verlegt er Leitungen in Neubauten – und einmal hilft er jungen Männern aus Gunjur bei der Flucht.

Parteh sitzt auf einem alten Schreibtischstuhl. In seinem iPhone 3 ist sein Kapital gespeichert, wie er sagt, Dutzende Telefonnummern aus Mali, Niger und Libyen. Wegweiser nach Europa. Vor vier Jahren fragten ihn Schlepper aus dem Senegal, ob er nicht in ihre „Agentur“ einsteigen wolle. Gambia ist ein wichtiger Markt, aber er funktioniert nur mit Leuten an der Basis, denen Flüchtlinge vertrauen.

Wer bleibt, kämpft täglich um das Überleben, die Menschen im Dorf sind arm.
Wer bleibt, kämpft täglich um das Überleben, die Menschen im Dorf sind arm.(c) Christian Putsch

Sechs Zwischenmänner sind an der Reiseroute beteiligt, Parteh koordiniert sie. Für eine Gebühr von umgerechnet gerade einmal 103 Euro legen seine Kunden ihr Leben in seine Hände. Denn die 1700 Euro, die der Trip von Gambia bis nach Italien insgesamt kostet, tragen nur die wenigsten bar mit sich. Parteh zahlt die Kontaktmänner in Mali und im Niger von Gambia aus über Ecobank, ein in Westafrika populäres Überweisungssystem. Bleibt das Geld aus, werden Leute schon einmal tagelang in Nigers Wüste festgehalten und bis zur Zahlung gefoltert. Mit ihm passiere so etwas nicht, sagt Parteh. Andere würden den Job schon für die Hälfte des Geldes anbieten. Er mache ihn richtig.

Im Niger zum Beispiel, wo die Behörden seit zwei Jahren zumindest halbherzig gegen das Migrationsgeschäft vorgehen. Seine Kontaktleute lassen die Flüchtlinge jetzt nicht mehr einfach an einer Tankstelle, sondern in einem angemieteten Haus schlafen. Oder in Libyen, wo er ausschließlich mit Bootsbesitzern aus Gambia arbeitet. Parteh spricht über sein Angebot so routiniert wie ein Pauschalreisenverkäufer. 30 Kunden habe er losgeschickt, sie alle seien in Italien angekommen. Zurückgekommen sei keiner, noch nicht. Nur ein Drittel der Asylanträge aus Gambia wird von den EU-Staaten bewilligt.

Es sind eher die indirekten Folgen von Jammehs Diktatur, die viele zur Flucht antreiben. In Gunjur gibt es außer zwei Fischfabriken kaum Arbeitsplätze. Die Wirtschaft wurde nicht diversifiziert, die Landwirtschaft zu wenig reglementiert, sodass Wälder abgeholzt wurden und der Boden ausgelaugt ist. Lang galt Gambia zudem als Paradebeispiel fehlgeleiteter Entwicklungshilfe. Von 2008 bis 2013 hat die EU fast 74 Millionen Euro gezahlt, derzeit sind alle Direktzahlungen eingefroren.

Die Suche nach anderen Einnahmequellen verläuft schleppend. In Person von Gaddafi kam einer der Hauptfinanciers abhanden, mit dem Iran überwarf sich Jammeh. Die Ölförderung vor der Küste, mit der er die Verluste kompensieren wollte, lässt weiter auf sich warten. Um Länder im arabischen Raum zu umwerben, verkündete er, Gambia sei fortan „eine Islamische Republik“. Ein Gesetz, das verbeamtete Frauen zum Tragen von Kopftüchern zwingen sollte, wurde aber schon bald zurückgenommen. Nicht einmal seine Frau hatte sich daran gehalten.

Wer bleibt, kämpft täglich um das wirtschaftliche Überleben. Die von England aus finanzierte Hilfsorganisation Gunjur Youth Development Project vergibt zinsfreie Kredite in Höhe von 250 Euro. Ein Imker hat sich so eine Existenzgrundlage aufgebaut. Oder ein Lehrer, der sein mickriges Gehalt nun mit einem sechs Quadratmeter großen Laden aufbessert, der gleichzeitig Druckerei und Friseursalon ist. Es geht irgendwie, auch wenn alle paar Monate Jammehs Steuereintreiber vorbeikommen und willkürlich abkassieren.

Lehrer Lamin Touré (rechts) hat sich gegen eine Flucht nach Europa entschieden. Mithilfe eines Mikrokredits hat er seine eigene kleine Druckerei gegründet, in der nebenbei auch noch Haare geschnitten werden.
Lehrer Lamin Touré (rechts) hat sich gegen eine Flucht nach Europa entschieden. Mithilfe eines Mikrokredits hat er seine eigene kleine Druckerei gegründet, in der nebenbei auch noch Haare geschnitten werden.(c) Christian Putsch

Mit dem Lebensstil, den so mancher Exil-Gambier hat, können sie aber nicht mithalten. Zumindest nicht mit der in den sozialen Netzwerken vermittelten Illusion – so mancher Nutzer geht nach Schnappschüssen mit Luxus-Autos zurück in das Flüchtlingsheim, andere haben dank eines europäischen Lebenspartners Aufenthaltsrecht. Die Botschaft aber ist stärker, als die von den USA finanzierten Anti-Flucht-Songs: Das Risiko lohnt sich. Und sie kommt auf Tausenden Smartphones an, der Preis für mobiles Internet ist seit dem Jahr 2012 rapide gefallen.

Kein Zurück. Sie erreichte auch den Installateur Lamin. Er schließt die Tür, die Nachbarn sollen seine Geschichte nicht hören. Den „Back Way“ abzubrechen gilt als Tabu in Gambia, schließlich hat oft die ganze Familie in die Flucht investiert. 18 Jahre hatte er hart gearbeitet, ein Stück Land konnte er sich aber auch mit 40 noch nicht leisten. „Ich wollte mehr. Für meine Frau, für meine Eltern, meine Tochter“, sagt er. „Und für mich.“ Besonders seine Frau träumte von einem Leben in der Schweiz. Oder in Deutschland.

Mitte 2015 brach Lamin auf und wurde Zeuge des Schreckens, den inzwischen Millionen erlebten. In der Wüste des Nigers begruben sie einen Mann aus Nigeria, der in der Hitze starb. Zehn Liter Wasser hatten die Schlepper pro Person für die einwöchige Fahrt auf dem Pick-up-Truck kalkuliert. Er sah, wie die beiden einzigen Frauen unter den Flüchtlingen mehrfach vergewaltigt wurden. Als sein Konvoi von Rebellen ausgeraubt wurde, hatte er Glück, dass er sein Geld geschickt in seiner Schuhsohle versteckt hatte. Ein Wahnsinn sei dieser Trip, murmelt Lamin. Ein Wahnsinn.

Er kam unverletzt in Libyen an, das Geld aber war ihm ausgegangen. Vier Monate dauerte es, bis er als Tagelöhner die umgerechnet 570 Euro für die Überfahrt nach Italien gespart hatte. Allzu oft hatten ihn seine Arbeitgeber nicht bezahlt. Nachts schlief er in einer Garage. „Ich hatte die Schnauze voll“, erzählt er, „vor allem aber hatte ich Angst. Während meiner Zeit in Libyen sind 600 Menschen im Mittelmeer ertrunken.“ Seinen Pass hatte er schon weggeworfen, wie die meisten Flüchtlinge aus Gambia, die in Europa ihr Herkunftsland verschleiern wollen, um ihre Deportation zu erschweren.

Im Dezember griff er zum Telefon, wählte die Nummer seiner Frau in Gunjur. „Ich komme zurück“, sagte er. Schweigen. „Wenn du jetzt aufgibst, lasse ich mich scheiden“, erwiderte sie nur. Lamin legte auf. Er ging zum gambischen Konsulat in Tripolis, ließ sich Papiere ausstellen, ging zum Flughafen und kaufte den ersten Flug seines Lebens. In den Niger, innerhalb von vier Stunden die Strecke, für die er eine Woche gebraucht hatte. Die letzten Ersparnisse gingen für die Busfahrt nach Gambia drauf.

„Ich bin zurück“, sagte er seiner Frau, „und wir bleiben.“ Sie nickte.»

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.09.2016)

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